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Wenn Besitz zur Last wird

Illustration: Lucia Götz

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2013, erzählt Julia (Name geändert), sei es besonders schlimm gewesen. In der Beziehung mit ihrem Mann läuft es nicht gut. Die damals 23-Jährige ist unzufrieden mit sich selbst und zweifelt alles an, trennt sich schließlich. Sie ist wütend, auf sich, auf ihn. Einige Monate leben die beiden in getrennten Wohnungen. Abends liegt Julia allein mit dem Laptop in ihrem Bett und besucht die Internetseite eines großen, günstigen Bekleidungsgeschäfts. Mit einem Mal wird sie ruhiger, entspannt sich, ist für kurze Zeit abgelenkt. Sie klickt sich durch verschiedene Artikel, Schuhe, Taschen, Kleider, Hosen. Ein Teil nach dem anderen wandert in den virtuellen Warenkorb. Langsam geht es ihr besser. Glücksgefühle durchströmen ihren Körper, so wie jedes Mal, wenn sie sich neue Klamotten gönnt. Sie denkt nicht mehr an die Trennung, sondern an all die schönen Dinge, die bald in ihren Händen liegen werden.

Am Ende sind es 700 Euro, die auf der Rechnung stehen. Selbst in diesem Moment des für sie bislang extremsten „Frustshoppens“ denkt sie noch: „Du kannst nicht mit Geld umgehen, du musst das lernen.“ Sie ist sich noch nicht bewusst, dass sie pathologisch kauft.

Vor allem Online-Kaufsüchtige recherchieren stundenlang im Internet

Dass ihr Kaufverhalten nicht mehr „normal“ ist, wird ihr erst so richtig im Sommer 2015 klar. Julia durchläuft gerade eine schwierige Phase, fühlt sich extrem unwohl in ihrem Körper und kauft unzählige neue Klamotten, die ihr ein gutes Gefühl geben. Es wird langsam schwierig, Rechnungen zu begleichen. Als sie das realisiert, bricht sie zusammen. Wie soll sie das nur jemals in den Griff bekommen? Mit einem Mal fühlt sie sich unglaublich schwach und dumm. Unter Tränen gesteht sie ihrem Mann, dass sie Probleme mit dem Kaufen hat, seit sie 16 ist. Die beiden sind mittlerweile wieder ein Paar, Julias exzessives Shoppen war jedoch nie ein Thema in der Beziehung. Nun aber, mit der Erkenntnis, dass es so nicht mehr weitergehen kann, braucht sie eine Vertrauensperson, die ihr die Kontrolle gibt, der sie sich selbst immer wieder entzieht. Ihren Mann wird sie nicht anlügen. Julia recherchiert, informiert sich über Kaufsucht – und stellt fest, dass die Merkmale auf sie zutreffen. Eine Selbsthilfegruppe wird von nun an Julias persönliche Anlaufstelle.

Einer Studie der Hochschule Ludwigshafen zufolge waren im Jahr 2010 etwa 800 000 Menschen in Deutschland, also etwa sieben Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung, wie Julia kaufsüchtig – Tendenz steigend. 1991 waren es in Westdeutschland nur fünf Prozent, in Ostdeutschland sogar nur ein Prozent. Zehn Jahre später, im Jahr 2001, haben sich die Zahlen deutlich verändert: In Westdeutschland sind rund acht Prozent betroffen, in Ostdeutschland, bereits sechs Prozent – Konsum hat nach der Wiedervereinigung Deutschlands offensichtlich einen anderen Stellenwert bekommen. Dabei ist Kaufsucht, beziehungsweise pathologisches Kaufverhalten, nicht als Krankheit anerkannt, wird also nicht im Diagnoseklassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation aufgeführt. Das macht es schwierig, das Problem anzugehen.

„Solange nicht bewiesen ist, dass bei der Kaufsucht ähnliche Mechanismen ablaufen wie bei einer substanzgebundenen Sucht, wird es schwierig mit der Anerkennung, zumal bislang zu wenige Studien vorliegen“, erklärt Astrid Müller, psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie an der Medizinschen Hochschule Hannover. Sie kämpft dafür, dass Kaufsucht in der Zukunft offiziell als Krankheit gilt. Denn das Verhalten der Betroffenen sei krankhaft: „Ihr Warenkonsum ist entgleist, orientiert sich nicht am Bedarf.“ Die Betroffenen verspürten den unwiderstehlichen Drang, etwas einzukaufen – die Gedanken kreisen nur noch um das Erfüllen dieses Drangs. So weit, dass es schließlich zum Kontrollverlust beim Konsumieren kommt. „In der Regel sind sich die Betroffenen klar darüber, dass ihr Verhalten nicht angemessen ist. Trotzdem kommt es immer wieder zu erfolglosen Versuchen, das Kaufverhalten zu normalisieren“, sagt sie. Sie kaufen mehr, als sie tatsächlich benötigen. Die Sachen werden angehäuft, gehortet und schnell nicht mehr beachtet. Betroffene wenden viel Zeit für den Einkauf auf, vor allem Online-Kaufsüchtige recherchierten stundenlang im Internet, erklärt Müller.

Momentan hat Julia ihre Kaufsucht im Griff, sie versucht, auf die „Minimalismus-Schiene“ zu kommen. Bevor die 27-Jährige jetzt etwas kauft, überlegt sie: Brauche ich das wirklich? Online kauft sie nicht mehr ein. Die junge Frau ist ruhig und gefasst, wenn sie erzählt, wie sie jahrelang unkontrolliert Klamotten und Kosmetika in Massen eingekauft hat. Julia trägt modische Jeans, Lederjacke und Sneaker, hat eine schlanke, sportliche Figur. Die dunkelblonden, glatten Haare fallen ihr über die Schultern, das Gesicht ist dezent geschminkt. Mit ihrem Mann wohnt sie in einer ländlichen Gegend in Bayern, in einem eigenen Haus. Beide legen viel Wert auf eine moderne Einrichtung, ordentlich soll es sein.

Wenn Julia sich  doch einmal ein T-Shirt kauft von dem Geld, das sie zum Geburtstag bekommen hat, kommen Vorwürfe

Mit 16 beginnt Julia ihre Ausbildung, hat das erste Gehalt und den Gedanken: „Jetzt habe ich endlich eigenes Geld.“ Von den Eltern wird sie immer kurz gehalten, da gibt es nur fünf Euro Taschengeld im Monat, während ihre Freundinnen 25 oder 50 Euro pro Monat bekommen. Wenn sie sich dann doch einmal ein T-Shirt kauft von dem Geld, das sie zum Geburtstag bekommen hat, kommen Vorwürfe: Spar halt mal, deine Geschwister können das ja auch. Die Mutter selbst bestellt maßlos, ständig flattern neue Pakete ins Haus – sie kauft alles online. „Wenn ich das als Kind gesehen habe, fand ich das extrem ungerecht“, erinnert sich Julia.

Mit 20 wird es schlimmer, da steht ihr nicht mehr nur das niedrige Ausbildungsgehalt zur Verfügung, sondern mit der Festanstellung  der erste richtige Verdienst. Julias Shoppingtouren werden exzessiver. Mal haut sie mit einem Mal 300 Euro beim Shoppen raus. Sie möchte immer „up to date“ sein, alle Trends mitbekommen, beim Ausgehen mit ihren Freundinnen gut aussehen. Von ihrem Gehalt spart sie nie etwas, sondern „schmeißt an den ersten Tagen immer alles aus dem Fenster, hauptsächlich für Klamotten, wie bei den meisten Frauen“. Da lacht Julia; sie weiß selbst, dass sie, oberflächlich betrachtet, das Klischee der shoppingsüchtigen Frau erfüllt, die mit ihrem Geld nicht umgehen kann. Astrid Müller bestätigt Julias Annahme: „Untersuchungen zeigen, dass es bei kaufsüchtigen Frauen in der Tat mehr um das Aussehen geht, bei kaufsüchtigen Männern eher um Freizeitaktivitäten und technisches Zubehör.“ Während bei älteren Altersgruppen vermehrt Frauen unter der Krankheit leiden, so sind in der jüngeren Generation Mädchen und Jungen gleichermaßen betroffen. Kaufsucht kommt in allen gesellschaftlichen Klassen vor; der Verdienst ist Nebensache: Wer mehr verdient, gibt eben größere Summen aus: „Es geht von der Hartz-IV-Empfängerin bis hin zur Zahnärztin“, sagt Müller.

„Es ist ein Dauerprozess wie bei einer anderen Sucht auch. Man ist ja auch nicht von heute auf morgen vom Alkohol befreit“

Mit ihrem Mann kann Julia offen über ihre Kaufsucht sprechen, ihre Beziehung ist daran – wie bei vielen anderen Betroffenen – noch nicht zerbrochen. Er hält zu ihr und unterstützt sie. Dass es auch anders sein kann, bekommt sie von den anderen Teilnehmer*innen in ihrer Selbsthilfegruppe mit. „Viele hören von ihren Partnern: Da gehst du hin und danach bist du nicht mehr kaputt, sondern heilgemacht. Aber das geht so eben nicht: Es ist ein Dauerprozess wie bei einer anderen Sucht auch. Man ist ja auch nicht von heute auf morgen vom Alkohol befreit.“

Angesprochen, zum Beispiel von besorgten Freundinnen, wurde Julia bislang noch nicht. Sie weiß selbst, dass es in unserer Gesellschaft „normal“ ist, oft und viel shoppen zu gehen. Dr. Gerhard Raab, Professor für Marketing und Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Ludwigshafen, sieht in der gesellschaftlichen Akzeptanz des Kaufens einen der Gründe dafür, warum in Deutschland tendenziell immer mehr Menschen vom pathologischen Kaufen betroffen sind: „Andere Suchtformen und Abhängigkeiten wie Nikotinabhängigkeit werden zunehmend gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert und eingeschränkt, ebenso ist es beim Alkoholkonsum der Fall. Beim Kaufen erfahren wir in den letzten Jahren das Gegenteil.“

Die Ladenöffnunsgzeiten des stationären Einzelhandels haben sich stark ausgedehnt. Mit dem Internethandel besteht zudem jeden Tag, rund um die Uhr, die Möglichkeit, Dinge zu kaufen. Kaufen und Konsum seien in unserer Gesellschaft positiv besetzt: Wenn man etwas kaufen kann, dann hat man es „zu etwas gebracht“, man kann am Konsum teilnehmen. Raab erklärt: „Konsum wird teilweise von der Gesellschaft gefordert. Schließlich soll der Einzelne etwas tun für das ökonomische Wachstum. Man muss kaufen, was produziert wird. Die negativen Folgen davon werden aber häufig ausgeblendet.“

Dass hierbei die Funktion der Werbung und die Bedeutung des Konsums in unserer Gesellschaft, vor allem bei den Jüngeren, eine zentrale Rolle spielen, steht für Raab außer Frage. „Jugendliche stehen heute unter einem viel höheren Werbedruck und haben viel mehr Möglichkeiten zu kaufen. Insgesamt hat Konsum einen anderen Stellenwert als noch vor 40 oder 60 Jahren. Das begünstigt natürlich auch die Kaufsucht.“ Kein Wunder also, dass unter den 800 000 Betroffenen nach Dr. Gerhard Raabs Schätzungen der Anteil der Jüngeren deutlich höher ist als der Anteil der Älteren. Er plädiert dafür, dass in Schulen verstärkt über Konsum aufgeklärt und die Konsumkompetenz gefördert wird.

 

Nach ihren Shopping-Exzessen fühlt Julia sich schuldig, wie ein Versagerin

Vielleicht hätten Julia präventive Maßnahmen zum Umgang mit Geld und Werbung geholfen. Sie kauft ohne zu überlegen. Dabei geht es ihr nicht so sehr um das Kauferlebnis als solches, sondern um den Besitz, um „das Haben“. Erst dann fühlt sie sich besser. Meistens zieht sie alleine los, ohne Begleitung. Seit sie verheiratet ist, begleitet sie an manchen Tagen ihr Mann. Da sind die Hemmungen größer und das Shoppen nicht so extrem.

Nach ihren Shopping-Exzessen fühlt Julia sich schuldig, wie eine Versagerin. „Weil ich es nicht auf die Reihe bekommen habe.“ Von ihren Freund*innen bekommt sie mit, wie es ist, zu sparen. Bei ihr ein Ding der Unmöglichkeit: Wenn wieder Geld da ist, geht es los. Shoppen, shoppen, shoppen.

Julia kauft immer auf Rechnung, die sie dann im Folgemonat begleicht. Eine Kreditkarte besitzt sie erst seit Herbst 2016, die sie nur dann benutzt, wenn sie in den Urlaub fährt. Kriminell ist Julia nie geworden, auch Schulden musste sie bislang keine machen. Bei anderen Betroffenen ist der Übergang in die Beschaffungskriminalität hingegen oft fließend: Sie bestellen zum Beispiel auf falschen Namen oder täuschen Zahlungsfähigkeit vor. Astrid Müller von der Medizinischen Hochschule Hannover betont: „Wenn das ‚Schulden machen‘ nicht erfüllt ist, heißt das noch nicht, dass keine Kaufsucht vorliegt. Es hängt auch davon ab, wie der finanzielle Background der Betroffenen ist.“

Der volle Kleiderschrank ist mit einem Mal unglaublich belastend

Wohl überlegt sind Julias Einkäufe nie, sie folgen eher dem Muster: „Das will ich jetzt haben. Das ist gerade in.“ Sie weiß, dass es auch schlimmer sein kann: „Viele shoppen ja auch Designer-Sachen, aber davon bin ich Gott sei Dank verschont geblieben.“ Bei ihr geht es vor allem um die Masse. Später, mit ihrem Mann, wird der Ikea-Kleiderschrank immer wieder erweitert. Schaut sie nach längerer Zeit wieder einmal in ihren Schrank an, denkt sie: Da sind so viele Teile, die hast du nie angezogen. In diesen Momenten versucht sie zu verdrängen, wieviel sie das alles gekostet hat. Der volle Kleiderschrank ist mit einem Mal unglaublich belastend. Wenn sie ausmistet und die Sachen in die Altkleidersammlung gibt, kommt ihr das vor wie eine Erlösung. Sie kauft trotzdem weiter – es ist einer ihrer Wege, mit Problemen umzugehen.

Bereits seit einigen Jahren leidet Julia unter psychischen Problemen und einem geringen Selbstwertgefühl. Oft fühlt sie sich unwohl in ihrem Körper, versucht mit Klamotten ihre Unzufriedenheit zu „überdecken“ und ihr Selbstbewusstsein zu steigern. Seit 2012 ist sie in psychologischer Behandlung. Ihrem Psychotherapeuten erzählt sie von ihrer Kaufsucht, fühlt sich aber nicht ernst genommen. Es gibt noch zu wenige, die sich mit dem Thema auskennen. Wenn Julia die Krankheit während ihrer Sitzung anspricht, erhält sie die Antwort: Da müssen Sie eben was wegsparen. Sie kommt sich vor, als würde eine fremde Person sagen: „Warum schaffst du das denn nicht? Das ist doch nicht so schwer.“ Seitdem spricht es in der Therapie nicht mehr an. Trotzdem hat ihr die Therapie geholfen, inzwischen geht sie seltener zu ihm, es geht ihr besser. Für alles andere ist jetzt die Selbsthilfegruppe da: Die Treffen geben ihr Kraft, gute Freundschaften hat sie dort schon geschlossen. Das hilft.

Psychische Beeinträchtigungen wie Depressionen und Ängste sind keine Seltenheit bei Kaufsüchtigen. Ein Großteil der Betroffenen leidet unter Selbstwertproblemen. Über das Materielle können sie zumindest in ihrer Fantasie den Selbstwert kurzfristig anheben und ihre Unsicherheit und Depressivität kaschieren. „Es geht um Emotionsregulation“, erklärt Astrid Müller. Betroffene vertreiben ihre Langeweile, lenken sich von Problemen ab, um sich innere Sicherheit zu verschaffen – so wie Julia.

Julia hat schon oft versucht, ihrer Mutter ihre Krankheit zu erklären, die reagierte ungläubig. „Obwohl meine Mutter dasselbe Problem hat. Aber sie will sich es nicht eingestehen und schafft es nicht, sich Hilfe zu holen.“ Ob ihre Freundinnen sie verstehen würden? Julia fühlt sich noch nicht bereit dazu, mit ihnen über ihre Kaufsucht zu reden. „Manche von ihnen werfen das Geld zum Fenster raus. Vielleicht würden sie dann auch umdenken.“

Hinweis der Redaktion: Dieser Text wurde zuerst am 20.4.2017 veröffentlicht und am 3.1.2021 nochmals aktualisiert. 

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