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Was ich vom Internet gelernt habe

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Ich bin mit drei Fernsehprogrammen und einer Gewissheit aufgewachsen: Zum Überleben braucht man Bild, BamS und die Glotze. Die Erkenntnis ist nicht von mir, sondern von einem Menschen, der sehr reale Macht in diesem Lande hatte: Altbundeskanzler Helmut äh Gerhard Schröder.
Dann. Mitte der 90er-Jahre. In grauer Vorzeit. Da gab es wie aus dem Nichts etwas anderes. Nicht Techno. Aber durchaus etwas Technologisches: die Datenautobahn. Den Cyberspace. Das Weltnetz. Man war so überrascht von diesem neuen Medium, dass man ganz vergessen hatte, einen passenden Namen auszusuchen, bevor das Riesenbaby das Licht der Computerscreens erblickte.
Datenautobahn kam mir persönlich etwas daneben vor. Das lag an meiner ersten Begegnung mit dem Internet. Es war abends in einer Werbeagentur in Hamburg. Damals hatten genau drei Leute einen Internetanschluss. Die Sonne wanderte schnell gen Horizont, während zwei Kollegen und ich seit einer Viertelstunde darauf warteten, dass mal endlich die gewünschte Seite geladen würde. Damals bot das Internet viele Möglichkeiten zum Zeitvertreib: Man konnte mit Freunden telefonieren, Sex haben oder (totaler Wahnsinn) ARBEITEN. Denn in der Zwischenzeit passierte meistens nicht viel (tut es heute oft auch nicht, nur viel, viel schneller). Heutzutage bietet die digitale Welt auch ungeahnte Möglichkeiten des Zeitvertreibs. Aber statt zu vögeln, widmet man sich eher Angry Birds.
Jedenfalls hatten wir gerade Dostojewskis Der Idiot ausgelesen, als wir voller Bewunderung die AOL-Homepage betrachteten. Hammer! Ich gab der Sache damals noch etwa ein halbes Jahr. Spätestens dann würden wir wieder alle am Faxgerät stehen und unsere hübschen Kolleginnen dafür bewundern, dass bei ihnen selbst Faxen eine irgendwie faszinierende Tätigkeit war.

 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert




Zum Glück bin ich nicht Visionär geworden (wofür ich mich selbstredend halte), sondern leitender Mitarbeiter einer gut gehenden Werbeagentur. Diese zeichnen sich gemeinhin dadurch aus, dass sie keine Trends setzen, sondern Trends nutzen. In diesem Falle den Trend: Internet. Meine erste Community (die damals natürlich noch nicht so hießen) war: Thema1. Ein Boulevard-Trashmassaker, wie man es nur in den Anfangszeiten des Internets wagen konnte, online zu stellen. Alles war neu. Es war ein endloser Raum voller Möglichkeiten. Digitalluft macht frei. Tief einatmen und ausatmen. Das tat gut.
Mein erster Avatar nannte sich: siegstyle. Den nutze ich nun seit elf Jahren. Mit dem Namen habe ich mir jede Menge Freunde gemacht. Bis heute. Dabei war siegstyle ein diesmal wirklich visionärer Blick in die Zukunft. Den Modediktatoren, die heute durch die Urbanität ziehen, würde man nur zu gern ein fröhliches: „Sieg Style!" entgegenbrüllen. Und gleichzeitig denken: Das Internet hat die Urbanität der Hipster gleichförmiger gemacht, bei größerer Individualität. Wie immer: Der Segen kommt immer mit seinem bösen kleinen Bruder Fluch.
siegstyle war für mich wie das Internet: Freiheit und Möglichkeit in einem. Aber ohne die Angst, die man vor der Freiheit hat. Er war und ist mein Mr. Hyde. Aber ich entscheide, wann er zum Vorschein kommt. Er tut und sagt Dinge, die ich als reale Person niemals sage oder getan hätte. Gutes und Schlechtes, Schlaues und Dummes, Wahres und Falsches. Das binäre System Internet: einmal die 0 im wahren Leben und einmal die Nummer 1 im virtuellen. Aus diesen Spannungsfeldern speiste sich meine Begeisterung für das digitale Leben.
Ohne es zu merken, entwickelte sich meine zweite Persönlichkeit. Es kam zu Treffen mit Menschen, mit denen ich online Kontakt hatte. Aber die sahen nicht mich als Person, sondern mich als siegstyle. Ich war nicht ich. Ich und ich. Das war keine Band, sondern zweierlei. Irgendwann habe ich diese Treffen eingestellt. Denn siegstyle war 100 Prozent online. Er hatte in der realen Welt nichts zu suchen. Ich kam mir vor wie ein verirrter spanischer Conquistador auf der vergeblichen Suche nach dem Eldorado. Immer voller Hoffnung und vielleicht auch Gier. Doch immer begleitet von der Vergeblichkeit.
Ich war nie ein Netzwerker. Trotzdem liebten andere User siegstyle. Seinen Wahnsinn. Seinen Blödsinn. Seinen Unsinn. Denn das Leben gaukelt uns immer mehr Sinn vor. Da tut es gut, den Unsinn bewusst zu suchen. Ich lebte mich aus. Es war wie freie Liebe. Der Sex war der Post, und der Orgasmus kam mit den positiven Kommentaren. Im Grund ist dies auch die Droge, die bis heute die sozialen Netzwerke am Laufen hält: die stete Sucht des Menschen nach Anerkennung. Die Währung ist Aufmerksamkeit. Gezählt wird in virtuellen Freunden, Followern oder Likes. Was das angeht, unterscheidet sich das digitale Leben nicht sehr vom echten. Denn sind wir nicht alle ständig auf der Suche nach ein bisschen Liebe?
Nach 14 Jahren Internet lebe ich heute mit vier Medien­welten und einer Gewissheit: Zum Überleben braucht man bild.de, mindestens ein soziales Netzwerk und eine riesengroße DVD-Sammlung. Und vor allem braucht man: Persönlichkeit. Im wahren Leben wie im wahren Leben im Internet.

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