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Musik streamen oder besitzen?

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Muss man Musik besitzen? Nein, sagt christian-helten:

In meinem Keller stehen zwei Kisten. Ich habe sie in den vergangenen fünf Jahren zwei Mal bewegt: als ich umgezogen bin und als zwei Schornsteinfeger mich morgens um 7 Uhr aus dem Bett klingelten, weil sie an einen Schacht in meinem Kellerabteil mussten und die Kisten davor standen. In den Kisten liegen CDs. CDs, die ich im Laufe meines Lebens gekauft und gerne gehört habe. Ich habe sie noch im Keller stehen, weil ich immer den Plan hatte, die Musik aus den Kisten an einem verregneten Wochenende, wenn ich mal Zeit habe, zu digitalisieren. Zwar liegt auf meinem Rechner mehr Musik als ich hören kann. Aber nicht immer die, die ich hören will. Manchmal habe ich eben noch mal das Verlangen, pubertären Crossover-Kram wie die H-Blockx aufzudrehen. Die CD liegt aber vergraben im Keller.  

Die Lösung solcher Probleme sind Streaming-Dienste. Spotify, das neue Google Play und Co machen Millionen von CD-Kisten zugänglich, in denen nahezu alles verfügbar ist, was das unvorhersehbare musikalische Willenszentrum in meinem Gehirn sich wünschen könnte. Ich kann all diese Millionen Tracks jederzeit hören, ohne sie besitzen zu müssen. Und nur darum geht es ja eigentlich: Um das Hören, nicht um das Besitzen.  

CD-Regale oder MP3-Sammlungen sind umständlich. Man muss ordnen und sortieren, es stapeln sich Kisten und Festplatten, es füllen sich Schränke und Regale. Das ist Platz- und Zeitverschwendung. Oder Angeberei: Von manchen Menschen werden musikalische Besitztümer zu unabkömmlichen Teilen der eigenen Persönlichkeit überhöht und zwecks Reputationsgewinn prominent im Wohnzimmer platziert. „Werft einen Blick in meine Musiksammlung!“, scheinen diese Menschen schreien zu wollen. „Seht, was für ein toller Typ ich bin!“ Das sind dann auch diejenigen, die dir auf einer Party 30-minütige Vorträge über die Entwicklung von Dubstep halten.  

Solche Vorträge will ich nicht hören. Musikempfehlungen hingegen lasse ich mir gerne geben. Ich bin zu wenig Musik-Nerd und zu sehr interessiert an verschiedensten Musikrichtungen, als dass ich der Flut der Neuheiten alleine Herr werden könnte. Früher musste ich dazu meine DJ-Kumpels und andere Menschen mit gutem Musikgeschmack bitten, mir mal wieder einen Mix zu machen. Klar, das hatte auch was Nett-Freundschaftliches. Aber es geschah eben nur alle paar Monate, zu selten also, um alles mitzubekommen. Die Alternative war ein kompletter Festplattenaustausch, bei dem man wie mit einem riesigen Bagger einfach alle Musikdateien von einem Rechner auf den anderen schaufelte. Ein riesiger Bagger kann viel bewegen. Aber er bewegt dann auch zwangsläufig viel Schrott, denn gezielt die kleinen Brocken heraussuchen kann er nicht. Streamingdienste sind da wesentlich präziser: Ich kann sehen, was jemand im Moment hört oder was er in seiner Playlist zum Joggen oder zum Feierabend hat, und ich bekomme es in einer Dosierung präsentiert, die ich verkraften kann. Nicht alles auf einmal, sondern immer genau so viel, wie ich will. 

Natürlich kann man gegen das Streamen von Musik argumentieren, dass wir noch nicht in einer Welt der Internet-Rundumversorgung angekommen sind, und damit das Versprechen der von Raum und Zeit losgelösten, grenzenlosen Verfügbarkeit von Musik ein falsches ist. Aber wer nur ein bisschen aufgepasst hat im letzten Jahrzehnt, muss zwangsläufig zu der Überzeugung gelangen, dass es kein weiteres mehr dauern wird, bis wir überall und jederzeit ins Netz gehen können, ohne dass uns das Unsummen kostet. Spätestens dann wird es vollkommen überflüssig sein, sich Musik herunterzuladen, in einem Laden zu kaufen – oder gar in einer Kiste im Keller aufzubewahren.

Auf der nächsten Seite stimmt jakob-biazza ein Loblied auf den Besitz von Musik an. Denn Streamingdienste sind für ihn wie eine Bar voller Blondinen für einen Single: too much.



Es gibt zwar wenige Argumente gegen das Streamen, findet jakob-biazza. Aber dennoch ist er überzeugt vom herkömmlichen Modell des Musik-Besitzes.

Meine Eltern sind schuld. Zumindest auch. Ich bin Einzelkind. Leidenschaftlich. In der Liste der Dinge, die ich tief verwurzelt schlecht kann, steht das Teilen also sehr, sehr weit oben. Man muss das vorwegschicken, weil es ja rational sehr wenige Argumente gegen das Streamen von Musik gibt – selbst gegen das ausschließliche.  

Die tragfähigen sind rein praktischer Natur: Die Berghütte ohne Internetverbindung. Der einsame Strand ohne WLAN-Versorgung. Wenn Alpenglühen und Wellenrauschen nicht mehr genügen, möchte ich auch dort Musik hören, ergo dabeihaben. Danach wird es argumentativ schwierig.  

Denn obgleich ich durchaus zu Nostalgie neige, kann ich der Haptik oder gar dem Geruch der Datenträger aus der alten Welt nichts, aber auch gar nichts abgewinnen. Meine Vinyl-Sammlung riecht für mich in der Hauptsache nach der hinterhältigen Kombination aus nassem und trotzdem staubigem Hund. Meine milchig verkratzten CD-Hüllen sind vom jahrelangen Transport zu beachtlichen Teilen gebrochen. Aus den Intakten bekomme ich die Booklets (die ich wirklich gerne lese) nicht herausgefriemelt, ohne die Seiten zu zerfleddern.  

Olfaktorisch wie haptisch also kein Genuss. Will sagen: Ich hänge dem Alten nicht wirklich nach. Ich bin eher in einer seltsamen Übergangsstufe gefangen. Einer Geisteshaltung, von der ich weiß, dass sie antiquiert ist – reaktionär wohl gar: Ich will meins! Ende des Berichts. Der Handwerker leiht sein Werkzeug auch nicht her. Das ist freilich eine Irrationalität, die ich mir gönne. Aber immerhin eine wohl kultivierte.

Das ist die eine Seite. Aber auch unabhängig von ihr sind Musik-Streams für mich des Teufels. Und das liegt am Angebot. An diesem endlosen, niemals zu durchquerenden Moloch aus Überinformation. Es ist nämlich so: Ich will nicht nur meins, sondern auch meine höchstpersönliche Beschränkung. Der Punkt in diesen Zeiten ist doch schon lange nicht mehr fehlende Verfügbarkeit. Woran es mangelt, sind Überblick und Gewichtung. Ich habe in meiner Bibliothek, was ich habe. Und ich habe mich irgendwann bewusst dafür entschieden. Ich habe sie also kuratiert, mal mehr, mal weniger liebevoll. Aber immer in einem Tempo, das ich verarbeiten konnte.  

Und das fehlt mir online. Für mich sind Streaming-Dienste, was eine Bar in Stockholm für einen Single ist, der auf Blondinen steht: Überforderung aufgrund von Reizüberflutung. Ich wiesele von Song zu Song, von Künstler zu Künstler, von Empfehlung zu Empfehlung, von Playlist zu Playlist. Breche Lieder in immer kürzeren Abständen ab. Getrieben, gepeinigt fast. In einer Folge von „How I Met Your Mother“ hält Barney seine Telefonnummer während der Superbowl-Übertragung in die Kamera. Resultat: Sein Handy hört nicht auf zu klingeln und er eilt wie ein Duracell-Häschen auf Speed von Frau zu Frau – ohne zum Schuss zu kommen. Schließlich könnte sich hinter dem nächsten Anruf eine noch aufregendere verbergen. Das einzelne Werk ist nur noch ein Zwischenstopp auf dem Weg zum nächsten, der Künstler wird zum Indiz degradiert, mit dem der Algorithmus mir einen anderen anbietet. Unerträglich. Kafkaesk geradezu!  

Glücklicherweise hat mir ein Einzelhändler in Stockholm den Ausweg aufgezeigt: „Wenn du hier in einer Bar einmal Augenkontakt mit einer Frau aufgebaut hast“, sagte er, „dann widerstehe unbedingt der Versuchung, auch nur einmal noch nach Links oder Rechts zu blicken! Schränke deine Möglichkeiten ein, sonst bist du verloren.“ Der Mann war Mitte Fünfzig, seine Nase war von geplatzten Adern gerötet, sein Bauch gemütlich. Und ja, er sprach den Satz, während er mir ein Tweed-Sakko mit Lederflicken verkaufte. Aber verdammt noch mal: Er wusste, wovon er redet!          



Text: christian-helten - und jakob-biazza

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