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"Der Westen ist heuchlerisch"

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Die Türkei ist für viele Menschen, die vor dem Krieg in Syrien fliehen, die erste Anlaufstelle. Nach Schätzungen der UN befanden sich 2015 1,9 Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Große Teile der europäischen Politiker wiederum haben ein Interesse daran, dass möglichst wenige davon in die EU weiterreisen. Vor allem Angela Merkel treibt Verhandlungen und Abkommen mit Präsident Erdoğan voran. Ihr Ziel: die türkisch-griechische Grenze zu sichern.

Wir haben junge Türken gefragt, was sie von diesen Deals und von Erdoğans Flüchtlingspolitik halten.

Sara, 19, Jurastudentin: „Die Menschen hier sind wütend“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Ein einziges Land kann keine 2,5 Millionen Gäste aufnehmen, das ist zu viel erwartet. Die Arbeitslosenrate in der Türkei ist sowieso schon sehr hoch und wir haben große Probleme mit der kurdischen Rebellengruppe PKK im Südosten. Der Mindestlohn beträgt nur 1,300 TL/Monat (400€), und selbst die günstigsten Wohnungen kosten mindestens 1,500 TL (450€). Sogar die Einheimischen haben Schwierigkeiten, ihre Miete zu zahlen. Die Menschen hier sind wütend. Flüchtlinge müssen oftmals in leerstehenden Bruchbuden oder auf der Straße leben. Trotzdem sind die Flüchtlinge nicht das Problem. Das Problem heißt Krieg. Sie fliehen ja nicht, weil es im Sommer zu heiß ist in Syrien. 

Trotz der schlechten Wirtschaftslage tut die Regierung, was sie kann, besonders an der Grenze zu Syrien. Die Camps werden ständig versorgt, allein das kostet Milliarden im Monat.

Auf meinem Weg zur Uni komme ich jeden Tag an Sultan-Ahmed-Platz vorbei, wo ein Selbstmordattentäter am 12. Januar elf Menschen tötete. An dem Tag hatte ich keinen Unterricht, sonst wäre ich womöglich dort gewesen. Es war trotzdem schrecklich, sonst hörte man immer von Attacken in Syrien oder Irak, aber der Terror war niemals hier. Und dann auf einmal doch.

Neulich war ich mit einigen Freundinnen in Eminönü, dem historischen Teil Istanbuls. Dort wimmelt es normalerweise nur so vor Touristen. Dieses Mal war niemand da, ich war schockiert. Am Tourismus hängen zwei Millionen Jobs und 12% des BIP. Wenn die wegfallen, hat das desaströse Folgen für Städte und Küstenorte. 

Europa verliert die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit. Natürlich gibt es keine Freiheit ohne Sicherheit, aber man kann nicht das eine dem anderen opfern, sonst geht es irgendwann nur noch um Sicherheit. Ich bin nicht sehr optimistisch, aber ich weiß, dass Sicherheitskontrollen und geschlossene Grenzen nicht die Lösung sein können. 

Auch wenn sich die Integration schwierig gestalten kann, das haben wir in Köln gesehen, und Europa es vielleicht nicht unbedingt schaffen möchte: Wir müssen das schaffen. Es gibt keine andere Lösung. Entweder führen diese Entwicklungen zu einem multikulturellen Europa oder zu einer Ansammlung von Ghettos, wo Marokkaner, Afghanen und Syrer abgeschottet voneinander leben."

Burak, 26, Psychologe und Schauspieler: „So etwas wie Pegida gibt es hier nicht“ 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"In meinem Stadtteil wohnt im Moment genau eine Flüchtlingsfamilie. Vor kurzem fragte mich der jüngere Sohn nach etwas zum Essen, er wollte nicht in der Bäckerei gegenüber fragen, da die Leute da immer so respektlos zu ihm seien. Also ging ich mit ihm woanders hin. Er hörte gar nicht auf zu essen und sagte immer "Ja" wenn ich fragte, ob er noch hungrig sei. Das hat mich sehr berührt, man merkt ja, ob jemand aufrichtig ist. Die Verkäuferin hat mir dann einen Rabatt gegeben, weil sie den Jungen kennt. Unsere Straße hat sich an die Familie gewöhnt und möchte sich um sie kümmern. Aber das ist ein Einzelfall. 

Seit ungefähr zwei Jahren leben wahnsinnig viele Menschen auf der Straße, die um Geld und Essen betteln. Am Anfang beschwerten sich noch viele Einwohner darüber, dass die Regierung sie ins Land ließ. Man wollte nicht teilen. Seitdem hat sich der IS aber viel weiter ausgebreitet, und die Menschen hier haben ein Gefühl für das Elend und den Schrecken bekommen, vor dem die Flüchtlinge flohen. Deshalb gibt es so etwas wie Pegida hier auch nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Türken in dieser Art gegen Flüchtlinge protestieren würden. 

Dennoch machen mir die Ansichten einiger Menschen Angst. Das wäre nicht so, wenn die Regierung hinter Menschenrechten stehen würde. Während der Pride-Parade letzten Sommer griff die Polizei friedliche Teilnehmer mit Pfefferspray und Tränengas an. Wenn man sich in solch einem Fall nicht beschützt fühlt, lässt die Angst nicht lange auf sich warten. Ich kann mich nicht dran erinnern, wann ich mich das letzte Mal frei gefühlt habe. Ein Beigeschmack von Frust ist in meinem Alltag immer dabei. 

Die türkische Regierung tut natürlich nicht genug, aber das könnte sie auch gar nicht. Unsere Arbeitslosenrate ist sehr hoch, selbst Türken haben nicht genug Essen oder keine Wohnung, deshalb können wir Flüchtlingen nicht adäquat helfen. In einer perfekten Welt hätten wir natürlich für jede Familie eine Wohnung und hätten die Mittel um allen helfen, aber wir spielen in einer ganz anderen Liga.

Jedes europäische Land ist weniger überlaufen als die Türkei. Im Hinblick auf Fläche oder Geld könnten sie sich alle besser um Flüchtlinge kümmern. Sie könnten uns zum Beispiel einen Teil abnehmen oder sich finanziell mehr beteiligen. Viele Syrer fühlen sich hier wohler, weil unsere Kulturen sehr ähnlich ist. Aber die Türkei braucht selbst Hilfe, erst recht, wenn sie anderen helfen soll. "

Semus, 25, Friseur: „Der Westen ist heuchlerisch“ 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Ich schneide den Bewohnern in Besiktas von morgens um 10 Uhr bis abends um 21 die Haare, da bekommt man einiges mit. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung steht Flüchtlingen kritisch gegenüber, die andere Hälfte hat kein Problem mit ihnen. 

 

Mich macht die Situation auf der Straße traurig. Seit die Russen Syrien bombardieren, ist es schlimmer geworden. Seitdem sind noch mehr Flüchtlinge in die Türkei gekommen. Der muslimische Glaube besagt, dass man den Armen und Hungrigen helfen soll. Deshalb habe ich gespendet. 

 

Natürlich wäre es besser, sie würden in ihrem eigenen Land leben, aber vorher muss der Islamische Staat (IS) zerstört werden. Warum fällt es der internationalen Gemeinschaft so schwer, sich zusammen zu schließen und ihn endgültig zu beseitigen?

 

Der Westen ist heuchlerisch. Auf der einen Seite soll die Grenze zwischen Syrien und der Türkei immer offen sein, sie wollen aber auch nicht, dass die Grenzen zwischen Türkei und Europa offen sind. Das hat natürlich negative Auswirkungen auf die Politik hier. 

 

Wir sind näher an den IS-Regionen als andere EU Länder, also ist der Terrorismus für uns eine größere Gefährdung. Das ist gruselig, aber zum Glück hat diese Angst mein Leben noch nicht beeinflusst. Aber auch jetzt schon gibt es innerhalb der Türkei Probleme mit Terrorismus und der kurdischen PKK. 

 

Die fehlende Pressefreiheit wird von Intellektuellen heiß diskutiert. Aber woanders sind Journalisten wenigstens etwas respektvoll gegenüber der Regierung: In Deutschland wird Merkel nicht bösartig beschimpft, in Frankreich wagt es sich niemand, Hollande verbal anzugreifen. In der Türkei sehen viele Journalisten kein Problem darin, Erdogan Mörder zu nennen. Deswegen haben die Journalisten es meiner Meinung nach verdient, verhaftet zu werden. Freiheit bedeutet nicht, seinen Präsidenten beschimpfen zu dürfen, deshalb ist die Türkei auch nicht weniger frei als andere Länder."

Rosa, 30, Kurdin: „Europa muss sich einschalten“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

 "Ich bin Kurdin, habe aber den Großteil meines Lebens in Istanbul verbracht. Die Situation im Südosten macht mich unfassbar wütend, sie schnürt mir die Luft zum Atmen ab. Freiheit gibt es in der Türkei nicht. Pro Tag sterben bis zu 60 Zivilisten bei Kämpfen zwischen kurdischen Rebellen der der Regierungsarmee.

 

Letztes Jahr half ich in einem Flüchtlingscamp in der Nähe von Kobane. Mein Freund stellte mich dort einem kleinen Jungen vor, der beide Beine verloren hatte. Er konnte vor lauter Wut nicht sprechen, das kam mir sehr bekannt vor. Er ist 13 Jahre alt und floh mit seinen beiden älteren Brüdern vor dem Krieg in Syrien. Kurz vor der Grenze rannten sie über Minen. Bei der Explosion starben seine beiden Brüder, und er verlor seine Beine. Der Kleine faszinierte mich. Wir telefonieren noch immer. Ich habe erst vor kurzem erfahren, dass er in seinem alten Leben ein Tänzer war. 

 

Erdogans vermeintliches Engagement für Flüchtlinge ist falsch, es ist ein einziger Publicity-Stunt. Die Regierung tut so, als würde sie handeln. Aber was passiert? Nichts. Die Flüchtlinge leben auf der Straße, sie haben nicht mal ein Dach über dem Kopf. Europa muss sich einschalten, von alleine wird die Türkei nämlich rein gar nichts tun. 

 

In den letzten Monaten ist vieles eskaliert. Ich habe oft das Gefühl, dass wir uns als Gesellschaft kollektiv zurückentwickeln. Wir Kurden sind auch nur normale Menschen ohne Superkräfte, irgendwann sind die Energiereserven ausgeschöpft. Eines Tages werden wir genauso auf der Straße leben, ich spüre das. Die Leute nennen die Kämpfe im Osten des Landes Krieg, die Bilder von dort sehen aus, als wären sie in Syrien aufgenommen worden. Solange meine eigenen Leute reihenweise sterben, fällt es mir schwer, an die anderen Flüchtinge zu denken."

Gokhan, 25, Lehrer und Musiker: „Ich fühle mich festgefahren in dem Chaos“ 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Im Leben ist alles vorübergehend. Wer weiß, ob und wann ich selbst aus meinem Land fliehen muss? Die Syrer rennen vor einem Krieg davon und kommen hier in einen neuen

 

Ich bin Lehrer und arbeite ab und zu mit Flüchtlingskindern. Aber ich sehe sie nicht als Opfer, weil sie selbst das auch nicht tun. Sie sind einfach Kinder, die mir sehr viel beigebracht haben. Einmal habe ich meine Klarinette in den Unterricht gebracht und türkische Volkslieder für sie gespielt. Manche Kinder hatten noch nie zuvor eine Klarinette gesehen. Manche tanzten wild, andere waren schüchterner und hören konzentriert zu. Das Instrument war ein echter Magnet, fast jeder wollte es berühren.

 

In der Türkei haben wir seit 13 Jahren die gleiche Regierung. Hier sagt man, eine Regierung gleich einem Baum: Einmal da, geht sie nie wieder. Während der Gezi Proteste vor zwei Jahren dachten wir tatsächlich, Dinge würden sich ändern. Christen, Muslime, Atheisten, wir alle demonstrierten gegen die Regierung, das war sehr beeindruckend. Ich sah auf Facebook, dass sich die Menschen dort versammeln, schnappte meine Klarinette und tanzte und aß mit ihnen. Dann kam die Polizei und es wurde blutig. 

 

Erdogans Politik ist sehr manipulativ. Wenn es um Flüchtlingshilfe geht, tun NGOs viel mehr als die Regierung. Helfer aus Frankreich oder Deutschland arbeiten oft für nur 400€ im Monat - aus reiner Überzeugung. Die Regierung hat damit nichts zu tun. Journalisten haben große Angst, sich kritisch zu äußern. Zu viele von ihnen wurden verhaftet oder mundtot gemacht. Dieser untertitelte ARD-Bericht dazu hat es auf den Punkt gebracht und wurde in meinem Freundeskreis oft geteilt. 

 

An manchen Tagen macht mich das unglaublich müde. Ich fühle mich gefangen, eingesperrt, und irgendwie festgefahren in dem Chaos. Jungen Türken denken oft, hier gebe es keine Freiheit, also müsse man auswandern und sein Glück woanders suchen. Ich habe an der Musikhochschule studiert, meine Gedanken müssen absolut frei sein, sonst wird das mit der Kunst nichts. Wir lieben die Türkei wegen ihrer Menschen, Kultur und Schönheit, aber die Politik macht es unmöglich hier zu bleiben. Wir bewegen uns wieder zurück in die Monarchie des Osmanischen Reiches. Es wäre unverantwortlich, hier gerade ein Kind groß zu ziehen."

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