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Wie finde ich einen eigenen Kunstgeschmack?

Foto: benoit tessier

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Ins Museum gehe ich am liebsten allein. Wenn jemand mich begleiten möchte, lautet meine Standardausrede: „Ich tue Freizeitdinge einfach gern in meiner eigenen Geschwindigkeit.“ Und zum Teil stimmt das auch. Wenn mir ein Kunstwerk gefällt, möchte ich es mir in Ruhe ansehen, ohne, dass jemand ungeduldig neben mir zappelt. Wenn mich etwas langweilt, will ich weiterziehen.

Hauptsächlich aber gehe ich lieber allein ins Museum, weil ich nicht über Kunst reden will.

Ich kann nicht genau sagen, warum mir dieses gefällt und jenes nicht. Und: „Das ist eben nicht mein Geschmack“ ist keine sehr befriedigende Antwort, für jemanden, der wirklich an einer Meinung interessiert ist.

Ein Bekannter hat vor einiger Zeit einmal versucht in einer eigenen Galerie in der niedersächsischen Provinz hochwertige Kunst zu verkaufen. „Die Leute kommen zur Tür rein und suchen eigentlich gar nicht nach Kunst“, hat er sich immer aufgeregt. „Die fragen dann, ob ich etwas in einem kräftigen Grün da habe, weil sie wollen, dass es zum Sofa passt.“ Damals habe ich darüber gelacht. Es kam mir albern kleingeistig vor, Kunst der Wohnungseinrichtung unterzuordnen. Heute fällt mir auf, dass „Ich will etwas, das zum Sofa passt“ wenigstens ein klares Statement ist. Da weiß jemand, was er will.

 

Aber ist der persönliche Geschmack überhaupt ein Kriterium in der Beurteilung von Kunst? Geht es da nicht um Wichtigeres? Und wie erkenne ich gute Kunst, wenn ich sie sehe?

 

Ich denke gern an meine Grundschulfreundin Laura, also mag ich Klimt

 

„Natürlich geht es in der Kunst nicht nur um Geschmack, aber eine Verbindung gibt es da schon“, sagt Hou Hanru, künstlerischer Leiter des Nationalmuseums für zeitgenössische Kunst des 21. Jahrhunderts „Maxxi“ in Rom. „Was uns an einem Kunstwerk gefällt, können wir allerdings nicht getrennt von unseren Werten und unserer Lebenserfahrung betrachten.“

Das sehe ich ein. Natürlich kann mir ein Kunstwerk etwas bedeuten, weil es mit einer Erinnerung verknüpft ist. Im Zimmer meiner Grundschulfreundin Laura hing eine Kopie von „Der Kuss“ von Gustav Klimt. Ich denke gern an Laura, also mag ich Klimt.

 

„Kunst ist nicht einfach gut oder schlecht“, sagt Hou Hanru weiter. „Sie ist komplexer als das. Vor allem geht es darum, eine Sensibilität zu entwickeln. Der Weg dahin ist ein Abenteuer für unseren Geschmack. Unterwegs könnte es politisch werden aber auch sehr persönlich. Am Ende ist es wichtig, wie wir das verarbeiten, was wir zu sehen bekommen. Man könnte auch sagen: wie wir es verdauen.“

 

Es gibt also keine Liste mit guten und schlechten Eigenschaften eines Werks, die ich abhaken kann. Das würde es mir leichter machen, Kunst zu beurteilen und Gespräche darüber zu führen, was es in mir auslöst. Aber zu hinterfragen, was genau mir an einem Kunstwerk gefällt, könnte ein guter Anfang sein.

 

In der Vergangenheit kam es vor, dass ich einer Skulptur wie bei einem Duell im Morgengrauen gegenüber stand. Aus meiner Gedankenpistole feuerte ich dann einen einzigen Satz auf meinen Gegner ab: "Ich finde dich scheußlich" oder "Du langweilst mich" und ging weiter.

 

Ich kann also damit beginnen stehen zu bleiben und mich zu fragen, was genau ich scheußlich finde, was genau mich langweilt.

„Man muss herausfinden, was wirklich relevant ist für die eigene Vorstellungskraft. Das ist eine Prüfung für die Grenzen dessen, was sich als allgemein gültiger Geschmack in unserer Gesellschaft etabliert hat. Die Kunst entwickelt sich niemals linear oder eindimensional. Sobald wir uns darauf einlassen, stellt sie alles in Frage, was wir zu wissen glaubten", sagt Hou Hanru.

 

Verstehe. Es geht darum, einen eigenen Zugang zu finden zu der Kunst, der man begegnet, und ganz ehrlich damit umzugehen, was man fühlt, wenn man sie betrachtet. In der Theorie klingt das ganz vernünftig, aber kriege ich das hin?

 

Beim ersten Museumsbesuch nach dem Gespräch mit dem berühmten Kunstexperten fühle ich mich erst mal bestätigt darin, mich ganz allein damit auseinanderzusetzen, was mit mir geschieht, wenn ich einem bestimmten Gemälde oder einer Installation gegenüber stehe. Gerade jetzt soll mir da bitte niemand reinquatschen.

 

Ich bin in der Albertina in Wien und schaue mir eine Ausstellung mit dem Titel „Monet bis Picasso“ an. Ich möchte mich zuerst mit etwas auseinandersetzen, dass eine starke Reaktion in mir hervorruft. Mit etwas, das mich besonders berührt oder abstößt. Ich schlendere also durch die Ausstellungsräume und warte darauf, dass mich ein Stück Kunst anspringt, als es plötzlich tatsächlich passiert.

 

Meine Herausforderung kommt still und unauffällig daher. An einer hellgrau gestrichenen Wand hängt, in schwarzem Rahmen, eine kleine Kohlezeichnung von Pablo Picasso aus dem Jahr 1909. Ich kenne diese Zeichnung sehr gut, man könnte fast sagen, ich kenne sie auswendig. Als Kind hatte ich einen dicken Bildband mit Picasso-Arbeiten und haargenau diese Zeichnung hatte ich unendliche Male zu kopieren versucht. Zuerst mit Buntstiften und später mit Kohle, um näher heranzukommen. Und jetzt begegnet mir zum ersten Mal das Original. Da ist sie also, die persönliche Verknüpfung, von der Hou Hanru gesprochen hat. Mir fällt der Teppich im Kinderzimmer wieder ein, auf dem ich immer lag und zeichnete. Stunde um Stunde konnte ich damit verbringen. Ich bin überrascht von dieser Zeitreise und fühle mich beschenkt. Mir ist nicht nur vollkommen klar, dass ich diese kleine Zeichnung sehr gern hab, ich weiß auch ganz genau warum. Nur eine Kleinigkeit stört: Es ist niemand da, dem ich davon erzählen kann.

 

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