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Wir sollten mehr Selbstgespräche führen

Selbstgespräche sind besser als ihr Ruf.
Illustration: Daniela Rudolf

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Ich rede mit mir selbst. Und das relativ oft, vermutlich mehrmals täglich. Ständig in kurzen Ausrufen und Sätzen, gelegentlich in längeren Monologen. Und du redest ebenfalls mit dir selbst – merkst es aber vielleicht gar nicht. Wenn sich der Laptop während eines Videocalls aufhängt und du dich laut ärgerst: „Nicht jetzt.“ Oder du eine Statistikaufgabe einfach nicht lösen kannst. „Wie zur Hölle ...?!“, fragst du dich dann vermutlich frustriert.

Aber auch, wenn du das Selbstgespräch bewusst wahrnimmst, willst du es vermutlich vor anderen nicht zugeben. Selbstgespräche werden ja irgendwie immer als etwas Verrücktes abgestempelt werden. Dabei haben sie wenig Krankhaftes an sich. Im richtigen Maß sind sie sogar verdammt nützlich. Und das in den verschiedensten Situationen.

Das weiß auch Dietrich Dörner, emeritierter Psychologie-Professor der Universität Bamberg. „Die Leute wissen oft gar nicht, wie viel sie mit sich selbst reden. Aber geben Sie ihnen mal ein Problem und sagen Sie: ‚Sie dürfen beim Lösen nicht mit sich sprechen.‘ Dann werden die feststellen, dass sie ohne Selbstgespräch gar nicht richtig denken können.“

Selbstgespräche steigern Konzentration und Leistung, helfen beim Erinnern

Dörner führte dazu vor Jahren ein Experiment mit einer Gruppe Studierender durch. Er gab ihnen die Aufgabe, einen Fahrradhalter zu konstruieren. Einige der Studierenden durften und sollten mit sich selbst sprechen, während sie die Aufgabe bearbeiteten. Andere nicht. Die, die ihre Gedanken laut formulierten, lieferten die weitaus besseren Konstruktionen.

Fragt man Dörner nach einer Erklärung dafür, antwortet er: „Das ist kein großes Mysterium, ich hätte das Experiment eigentlich gar nicht zu machen brauchen.“ In dem Moment, in dem man spricht, produziere man schließlich nicht nur Wörter, sondern auch Gedanken und Bilder. „Alles wird konkreter. So nehmen wir Probleme besser wahr, finden leichter Lösungen, kommen schneller voran“, erklärt Dörner.

Selbstgespräche nützen darum nicht nur, während man ein Problem lösen muss, sondern beispielsweise auch, wenn wir bestimmte Fertigkeiten erlangen wollen. Lernt der Eiskunstläufer eine Kür, tut er sich leichter, wenn er sich vorher noch einmal verbal erklärt, was er genau tun muss: „Links, rechts, links, Drehung und dann abspringen.“ Durch das Aussprechen wird nicht nur alles etwas konkreter im eigenen Kopf. Man muss sich auf das Sprechen auch konzentrieren und Störquellen werden deshalb ausgeblendet, man lässt sich weniger leicht ablenken.

Selbstgespräche helfen außerdem, Dinge im Kopf zu behalten, beziehungsweise sie wieder dorthin zurückzuholen. Ich rede vor allem in solchen Situationen mit mir selbst, wenn ich mich an etwas erinnern muss. „Die Maske, wo ist meine Maske?“, sage ich vor mich hin, wenn ich auf der Suche danach bin. Zu oft hörte ich nämlich schon auf, herumzulaufen, weil ich einfach vergessen hatte, was ich suchte. Diese Vorgehensweise wendete ich auch beim Lernen an, mit dem Unterschied, dass das Selbstgespräch dann länger ausfiel. Mir half es immer, mir selbst zu erzählen, was ich wissen musste.

Selbstgespräche motivieren und treiben Handlungen an

Ein Freund sprach sich sogar mit Vornamen an und machte ein richtiges Gespräch daraus: „Hallo Julius. Nun sag mir doch mal, was die verschiedenen theoretischen Ansätze sind, mit denen man dieses Phänomen erklären könnte!“, forderte er sich auf, um dann ebenso höflich zu antworten: „Aber das mache ich doch gerne, Julius! Also … “ Das machte er natürlich mit einem Augenzwinkern – geholfen hat es aber trotzdem.

Denn auch das können Selbstgespräche leisten: Sie können, wenn man nett zu sich ist, motivieren und Lust auf Dinge machen. Da muss man auch auf die Formulierung achten. Sätze wie „Du bist so dumm, nächstes Mal machst du’s besser, du Idiot!“, helfen dabei nicht so gut, wie „Du hast dein Bestes gegeben, aber da geht noch was. Das kannst du.“

Selbstgespräche können so auch zum Handeln bewegen. Einmal blieb beispielsweise ein alter Mann mit Krücken in der Tür der U-Bahn stecken und schimpfte verzweifelt vor sich hin. Ich stieß „Oh Gott, warum hilft denn da keiner?!“ hervor, bevor ich aufstand, um an der Tür zu zerren. Dörner sieht einen direkten Zusammenhang zwischen meinem kurzen Selbstgespräch und meiner Handlung: „Sie sprachen den Satz aus und wussten dann sehr schnell sehr konkret für sich selbst, wie sie die Situation einordneten: Sie hatten Mitleid, der Mann war Opfer eines unglücklichen Zufalls und sie wollten helfen. Hätten Sie gesagt, ,Oh Gott, dieser Idiot‘ wären Sie vermutlich nicht so schnell aufgesprungen.“

Selbstgespräche funktionieren als Ventil und helfen, Krisen zu bewältigen

An diesem Beispiel sieht man auch noch etwas anderes: Weder der alte Mann noch ich wollten mit unserem Gestammel jemanden anreden. Wir brauchten unsere Sprache vielmehr, um die Gefühle rauszulassen, die die Situation in uns hervorgerufen hatte. Angst, Verunsicherung, Scham, Mitgefühl.

Genauso können Selbstgespräche aber auch Stress, Ärger und Schmerz verringern. Indem wir unsere Münder öffnen und Worte freisetzen, lassen wir emotionalen Druck ab. Hauptsächlich übrigens während negativer Erfahrungen. Das kennt vermutlich jede*r von sich selbst, Ausrufe wie „Oh Gott“, „Ach du ...“ und so weiter.

Derartig kurze Sätze reichen allerdings nicht mehr aus, wenn ich in meinem Selbstgespräch wirklich etwas klären will. Etwas, das ich eigentlich mit jemand anderem besprechen müsste. Das kommt dann vor, wenn es mit dem anderen nicht die Gelegenheit zum Gespräch gab oder ich mich einfach nicht dazu durchringen konnte.

Dann stehe ich tatsächlich Hollywood-Film-mäßig vor dem Spiegel und formuliere Sätze, die ich dieser Person jetzt gerne sagen würde. Exfreunden, zu denen man keinen Kontakt mehr haben will zum Beispiel, kann man auf diese Weise zumindest gedanklich wunderbar noch die ehrliche Meinung sagen. Man kann aber auch üben, wie man der Chefin die Gehaltserhöhung abringt. Oder wie man den Eltern sagt, dass man an Weihnachten nicht da sein will oder kann.

Durch das Aussprechen der eigenen Gedanken bestätigt man, was man im Inneren schon weiß, aber nicht konkret zu fassen bekommt. Alles sortiert sich. Dörner ermutigt mich deshalb dazu, mich in persönlichen Krisen weiter mit mir zu unterhalten: „Sie sehen die Dinge viel klarer, wenn Sie laut denken. Sie erkennen dann zum Beispiel Widersprüche besser. Oder stellen fest: Oh je, die Formulierung ist zu hart, das kann ich meinem Chef gegenüber so nicht sagen.“ Das Selbstgespräch hilft so, weniger aus dem Bauch heraus zu handeln und Herausforderungen rationaler anzugehen.

Der Mensch tut sich also ganz grundsätzlich etwas Gutes, wenn er gute Unterhaltungen mit sich selbst führt. Denn Selbstgespräche helfen nicht nur in vielerlei Hinsicht, sondern sind auch einfach angenehm: Man kann sie immer führen (bewährt sich besonders in Zeiten von Kontaktbeschränkungen), sich dabei aussuchen, worüber man wie lange reden will – und auch, wie das Gespräch am Ende ausgehen soll.

Dieser Text erschien zum ersten Mal am 05. April 2018 und wurde anlässlich der Coronakrise zum 10. Dezember 2020 noch einmal aktualisiert.

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