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Caroline hat eine Leukämie überlebt

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Die Erzähler

Kapitel 1: Die Diagnose

"Die Diagnose 'Leukämie' habe ich mit 18 Jahren bekommen, am 7. April 2006. Gemerkt habe ich es schon ein Jahr vorher. Ich war Leistungsschwimmerin und eigentlich sehr fit, aber auf einmal war ich immer schnell erschöpft und mir war schwindelig, wenn ich in der Früh aufgestanden bin. Ich hatte riesige blaue Flecken, ohne zu wissen, woher sie kommen, und war ständig leicht fiebrig und erkältet."

Woher kommen die Symptome?

Wenn man sich die Funktionen des Blutes vor Augen führt, kann man daraus diese Beschwerden ableiten. Wir haben drei Hauptgruppen von Zellen, die das Blut ausmachen:

1. Die roten Blutkörperchen. Sie transportieren den Sauerstoff zu den Organen – und wenn zu wenig Sauerstoffträger da sind, kann es zu Luftnot kommen. Häufiger aber spüren die Patienten Schwäche, Müdigkeit, Schwindel und Leistungsminderung.

2. Die Blutplättchen. Sie verkleben kleine Defekte in den Gefäßen und verhindern so den Austritt von Blut aus dem Gefäßsystem. Das passiert in unserem Körper tagtäglich und ständig, verstärkt natürlich bei Verletzungen. Wenn Blutplättchen fehlen, kommt es zu einer Blutungsneigung. Die kann sich durch Nasenbluten, Blut im Urin, Blut im Stuhlgang, bis hin zu Punktblutungen in der Haut zeigen – oder eben durch das Auftreten von großen blauen Flecken, die man sonst nur nach Stößen und Verletzungen aufweist.

3. Die weißen Blutkörperchen. Sie haben im Wesentlichen die Funktion der Infektabwehr. Wenn die gesunden weißen Blutkörperchen von den Leukämiezellen verdrängt werden oder ihre Funktion durch sie zerstört wird, kann man Infektionen jeglicher Art bekommen.

"Dann hat sich meine linke Schulter immer ausgekugelt, bei ganz alltäglichen Bewegungen, beim Strecken im Bett oder wenn ich was aus dem Regal holen wollte. Nach einigen Arztbesuchen ist meine Mutter mit mir zum Osteopathen gegangen. Der hat zu mir gesagt, dass ich kein Problem mit der Schulter habe, sondern ein Blutbild machen lassen soll. Ich habe das noch in der gleichen Woche machen lassen und Freitagfrüh um sieben kam ein Anruf vom Arzt, dass ich bitte sofort in die Notaufnahme kommen soll.

Ich habe geweint, weil ich gemerkt habe, dass irgendwas überhaupt nicht in Ordnung ist. In der Notaufnahme wussten schon alle Bescheid und ich habe mich total komisch gefühlt, weil ich behandelt wurde wie ein Promi. Ich wurde in einen Raum gebracht und zwei Professoren kamen zu mir. Der eine hat sich neben mich auf die Liege gesetzt und den Arm um mich gelegt. Ich dachte mir: 'Was geht hier bitte ab?' Er hat zu mir gesagt: 'Frau Drose, ich lasse Sie jetzt nicht alleine.' Und der andere: 'So, wie Ihr Blutbild ausschaut, müssen wir Ihnen leider sagen, dass sie Leukämie haben.'"

Wie kommt es eigentlich zu einer Leukämie und was sieht man auf dem Blutbild?

Bei einer Leukämie ist es in einem Teil der blutbildenden Stammzellen zu einem genetischen Defekt gekommen. Der kann durch ein zufälliges Ereignis, ein Zellgift oder auch Röntgenstrahlen induziert werden. Dieser Defekt bewirkt zum einen, dass Zellen nicht mehr richtig ausreifen, also nicht mehr die Zellen gebildet werden, die eigentlich gebildet werden sollen: rote Blutkörperchen, weiße Blutkörperchen und Blutplättchen. Zum anderen bewirkt er, dass sich unreife Zellen ungebremst vermehren können. Diese unreifen Zellen (Leukämiezellen) findet man dann im Blut oder im Knochenmark eines Patienten mit akuter Leukämie.

Der Arzt wird auf Carolines Blutbild wahrscheinlich Veränderungen an den drei Zellreihen gesehen haben – eine Armut an roten Blutkörperchen, eine Armut an Blutplättchen und möglicherweise einen Anstieg von weißen Blutkörperchen.

"Meine Mutter ist in Tränen ausgebrochen. Mir ging durch den Kopf: 'Leukämie, was ist das noch mal?' Und dann: 'Krebs. Scheiße.' Ich habe den Arzt angeschaut und gefragt: 'Muss ich jetzt sterben?' Er hat mit den Schultern gezuckt und gesagt: 'Das weiß man nicht.'

Ich wurde an ein größeres Krankenhaus verwiesen. Der Arzt, der dort meine Werte gesehen hat, war total geflasht, dass ich überhaupt noch laufen konnte. Ich hätte noch circa zwei Wochen gehabt, dann wäre ich am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufgewacht. Oder zusammengebrochen und gestorben. Ich weiß selbst nicht, wie ich das so lange ausgehalten habe.

Ich war eigentlich relativ gefasst, stand aber auch total unter Schock und hab die ganzen Untersuchungen einfach über mich ergehen lassen. Als ich auf die Krebsstation gekommen bin, kam mir ein Mann mit Glatze entgegen. Er hatte eine Infusion dabei, war bleich und abgemagert. Da bin ich zusammengebrochen und habe geweint."

Kapitel 2: Die erste Chemotherapie

"Am nächsten Tag fingen direkt die Chemotherapien an, weil meine Werte ja so schlecht waren." 

Wie wird eine Leukämie behandelt?

Bei einer akuten Leukämie haben die Leukämiezellen einen Wachstumsvorteil gegenüber den gesunden Blutzellen – das heißt, sie teilen sich sehr schnell. Bei der Chemotherapie macht man sich das zunutze, indem man Medikamente gibt, die die Zellen, die sich schnell teilen wollen, in besonderem Maße schädigen. Diese Medikamente nennt man Zytostatika. Zytostatika werden von den Zellen aufgenommen, in das Erbgut integriert und führen dann zum Absterben der Zelle. Die Medikamente werden in aller Regel als Infusion gegeben, es gibt aber auch Zytostatika, die man als Tablette einnehmen kann.

"In dem Krankenhaus, in dem ich war, haben sie damals eine Studie zu Stammzellspendern aus der Familie gemacht und meine Mutter hatte 70 Prozent Übereinstimmung mit mir – das war für die wie ein Sechser im Lotto. Aber sie haben dort auch gewusst, dass ich über die DKMS drei Fremdspender habe, einer davon mit 90 Prozent Übereinstimmung – und das haben sie mir verheimlicht. Die Ärztin hat mir mehrfach gesagt, dass ich sterbe, wenn ich die Spende meiner Mutter nicht annehme. Aber ich habe mich dagegen entschieden, weil die Aussichten für eine Transplantation mit 70 Prozent Übereinstimmung nicht so gut waren und außerdem nach den Chemos keine Krebszellen mehr zu sehen waren."

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Illustration: Katharina Bitzl

Was bedeutet „Übereinstimmung“ von Spender und Patient?

 

Der Körper hat ein sehr komplexes System entwickelt, mit dem er „Fremdes“ erkennen kann, zum Beispiel ein Bakterium oder Zellen, die von einem Virus befallen sind. Diese Erkennungsmechanismen funktionieren über bestimmte Merkmale – Moleküle auf der Oberfläche von Zellen oder von Krankheitserregern. Für das menschliche Immunsystem haben bei der Erkennung von „selbst“ und „fremd“ die sogenannten HLA-Merkmale eine besonders wichtige Bedeutung.

 

Jeder Mensch erbt einen Satz HLA-Merkmale vom Vater und einen Satz von der Mutter. Das heißt, mit Vater und Mutter stimmt man in aller Regel zu 50 Prozent überein. Es gibt Situationen, in denen man von Vater und Mutter an einer Stelle die gleichen Merkmale erbt, dann kann die Übereinstimmung größer als 50 Prozent sein. Wichtiger aber sind für eine Transplantation die Geschwister. Ein Patient und ein Geschwister können die gleichen Merkmale von Vater und Mutter geerbt haben, dann sind diese Geschwister HLA-ident.

 

Wenn man unter unverwandten Spendern den passenden finden möchte, muss man in großen Datenbanken suchen, weil die Diversität der HLA-Merkmale so groß ist. Momentan schauen wir nach fünf verschiedenen Merkmalen, die jeweils von Mutter und Vater vererbt werden, also fünf Mal zwei, macht zehn Merkmale. Optimalerweise findet man einen Spender, der an allen zehn Merkmalen übereinstimmt. Wenn eins der zehn Merkmale sich unterscheidet, wäre man bei 90 Prozent Übereinstimmung und so weiter. 

"Meine Haare waren mir immer sehr wichtig – ungeschminkt und nackt aus dem Haus zu gehen, wäre okay gewesen, aber die Haare mussten immer sitzen! Ich habe während der Chemo also jeden Morgen als erstes an meinen Haaren gezogen. Und dann hatte ich eines Morgens ein Büschel in der Hand. Am nächsten Tag habe ich sie abrasieren lassen. Danach in den Spiegel zu schauen – das war schon krass. Ich sah aus wie ein Shaolin-Mönch!

 

Am Anfang bin ich damit gar nicht klargekommen. Irgendwann interessiert es dich nicht mehr, da hast du abends Angst und betest, dass du am nächsten Morgen wieder aufwachst. Da sind dir deine Haare egal. Aber ich habe mir damals abgewöhnt, in den Spiegel zu schauen. Ich wollte mich nicht sehen."

Wieso kommt es bei einer Chemotherapie zum Haarausfall?

 

Chemotherapie, aber auch Bestrahlung, wirken vor allem gegen Gewebearten, die sich schnell teilen. Deshalb sterben Krebszellen, deren Eigenschaft ja gerade die hohe Zellteilungsrate ist, unter dieser Behandlung ab. Aber auch die Haarfollikel der Kopfhaare sind hochaktive Zellen und werden deshalb leider auch geschädigt. Kommt es kurzzeitig zum Stopp des Haarwachstums, fallen die Haare aus. Wenige Tage nach Abschluss der Therapie erholen sich die Haarfollikel wieder und produzieren neue Haare. Bis das für eine neue Frisur reicht, können aber viele Wochen vergehen.

 

"Im Juni, als ich nach der Chemo genug Zellen hatte und wieder gegessen und getrunken habe, durfte ich nach Hause. Zu Hause sein war toll. Ich habe oft mit meiner Mutter Tagesausflüge gemacht. Mit dem Auto, ich konnte ja kaum laufen. Einfach irgendwo einkehren auf einen Kaffee, unterwegs sein und versuchen, ein bisschen zu vergessen."

 

Kapitel 3: Der Rückfall

 

"Die Diagnose kam am 9. Oktober 2006. Ich war morgens bei der Blutkontrolle, später kam der Anruf vom Arzt: 'Die Werte sind gestiegen und bei Ihnen ist das keine Erkältung – die Leukämie ist zurückgekommen.' Ich habe gesagt, dass ich auf keinen Fall wieder in das gleiche Krankenhaus will, weil ich dort schlechte Erfahrungen gemacht habe, und da haben sie mich in eines in einer anderen bayerischen Stadt geschickt. Am nächsten Tag war dort Großvisite und der Oberarzt hat mir gesagt, dass ich drei Fremdspender habe. Da bin ich aus allen Wolken gefallen!" 

Kapitel 4: Die zweite Chemotherapie und die Transplantation

 

"Während der zweiten Therapie fiel mir das Einschlafen schwer. Erstens, weil ich nicht wirklich müde war, ich habe ja den ganzen Tag nichts gemacht. Und zweitens, weil ich Angst hatte, nicht mehr aufzuwachen.

 

Wochenlang durfte ich die Krebsstation nicht verlassen, zeitweise durfte ich nicht mal aus dem Zimmer, weil auf der Krebsstation ja jeder gefährdet ist, sich was einzufangen. Ich wusste nicht mehr, wie es ist, frische Luft zu atmen. Man musste immer alles desinfizieren. Wir hatten auf dem Zimmer auch so ein ganz altes, grünes Telefon mit großen schwarzen Tasten, weil das leichter zu reinigen ist.

 

Durch die Behandlungen war mein Immunsystem sehr geschwächt und darum bekam ich eine Blutvergiftung. Ich hatte über 40 Grad Fieber und war unglaublich müde. Ich weiß noch, dass mein Vater mir die Augen aufgemacht hat, denn es wurde auf einmal hell, und dass meine Mutter auf dem Gang geschrien hat: 'Wir brauchen einen Arzt, wir brauchen einen Arzt!' Dann wurde ich durch einen kalten Gang geschoben. Ich kam auf die Intensivstation und zum Glück hat mein Körper sofort das Medikament angenommen. Trotzdem lag ich eine Zeit lang im Koma. Ich weiß nicht, ob ich alles mitgekriegt habe, aber es gab so Momente: Ich weiß noch, dass eine der Schwestern nie was gesagt, sondern mich immer nur mit kalten Fingern angefasst hat. Das hat mich richtig aggressiv gemacht. Es lief den ganzen Tag das Radio, und ich hatte bei bestimmten Liedern Erinnerungen, an die Disco oder das Fitnessstudio. Das war, wie am See zu liegen und ein gutes Hörbuch zu hören, komplett entspannt. Dann saßen meine Eltern am Bett und meine Mutter hat angefangen zu weinen. Mein Vater hat gesagt: 'Die kommt schon wieder, der Körper ist nur sehr schwach.' Ich habe mich gefragt: 'Wieso weint sie denn? Mir geht es doch wunderbar!' Und da habe ich mich gezwungen, aufzuwachen, um ihr zu sagen: 'Hey Mutter, es ist doch alles in Ordnung!'

 

Ein paar Tage vor der Transplantation lag ich im Bett und dachte: 'Hoffentlich spendet meine Spenderin jetzt auch wirklich.“ Du kennst die Person ja nicht, du kannst nicht einschätzen, wie sie reagiert, oder sie könnte einen Unfall haben auf dem Weg zur Spende. Ich war extrem angespannt.'"

Wie wird die Spenderin auf die Stammzellspende vorbereitet und wie läuft sie ab?

 

Die Spenderin erhält Neupogen, ein körpereigenes Hormon, das sonst ausgeschüttet wird, wenn der Körper besonders viele weiße Blutkörperchen braucht, zum Beispiel bei einer Infektion oder einer Verletzung. Neupogen kann man als Spritze unter die Haut verabreichen. Das Knochenmark wird durch dieses Hormon dazu stimuliert, besonders viele weiße Blutkörperchen zu bilden und in die Blutbahn hinein zu geben, damit man diesen Überschuss spenden kann. Gleichzeitig tauchen blutbildende Stammzellen vermehrt in der Blutbahn auf. Mit einem Blutwäscheverfahren kann man dann solche Zellen und weiße Blutkörperchen aus der Blutbahn heraussammeln.

 

"Anfang Dezember, also einige Zeit vor der Transplantation, wurde ich quasi eingesperrt. Einen Tag vorher hat die Schwester meine Mutter und mich noch zusammen auf den Christkindlmarkt gehen lassen. Mit speziellem Mundschutz mit Filter dran und dick eingepackt. Das war absoluter Genuss! Ich wusste ja nicht, ob ich wieder aus dem Krankenhaus rauskomme und es war zumindest klar, dass Rausgehen für die nächste Zeit absolut tabu ist. Es war so schön, zu sehen, wie alle in Weihnachtsvorfreude sind, und zu wissen: Ich habe mein eigenes Christkind.

 

Drei Tage vor der Transplantation bekam ich dann die Chemos und Bestrahlungen, die mich auf null runtergefahren haben. Man kommt für die Transplantation auf eine spezielle Station, absolute Quarantäne. Wenn mich jemand besucht hat, musste er die Hände desinfizieren und so etwas wie einen OP-Anzug anziehen, dazu Mundschutz, Handschuhe, was über die Schuhe – und wer einen Schnupfen hatte, durfte gar nicht rein." 

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Illustration: Katharina Bitzl

Wie funktioniert eine Stammzelltransplantation?

 

Als Vorbereitung auf die Transplantation wird Chemotherapie und Bestrahlung eingesetzt. Damit verfolgt man zwei Ziele: die Schwächung des Empfänger-Immunsystems, damit es das neue, gesunde Immunsystem nicht abstoßen kann, und eine möglichst weitreichende Vernichtung der Leukämiezellen.

 

Bei der folgenden Stammzelltransplantation nutzt man aus, dass sich zwei verschiedene Immunsysteme in aller Regel nicht vertragen, sondern immer ein Immunsystem das andere dominiert und versucht, alle Zellen eines anderen Individuums fernzuhalten. Man transplantiert also ein gesundes Immunsystem und verschafft ihm einen Vorteil, da man das Empfänger-Immunsystem ja durch die Vorbehandlung geschwächt hat. Das gesunde Immunsystem vernichtet dann alle Zellen des alten Immunsystems des Patienten. Und da bei einer Leukämie die Krebszellen selbst Zellen des Immunsystems sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie von den gesunden Spenderzellen vernichtet werden.

 

Für die Transplantation muss nicht operiert werden, sie funktioniert über eine Transfusion: Man kann ein Stammzellprodukt über eine ganz normale Flexüle, also eine kleine Nadel in die Vene hineingeben. So ein Stammzellprodukt enthält Hunderte von Millionen Zellen. Je nachdem, welche Nischen diese Zellen im Körper haben, suchen sie sich ihren Platz. Die blutbildenden Stammzellen suchen die hämatopoetische, also die blutbildende Nische auf, nisten sich dort ein und beginnen dann wieder mit der Produktion neuer Zellen. Etwa 14 Tage nach der Stammzellgabe sollte die Zahl der Blutzellen wieder ansteigen.

 

"Ich hatte schon irgendwie Schiss –  aber obwohl es eigentlich die krasseste Zeit war, war es für mich auch die schönste Zeit im Krankenhaus. Weil ich endlich mal alleine war. Und man wird auch viel intensiver betreut. Die Schwestern und Pfleger waren supernett und sind auch locker mal eine Stunde bei mir geblieben. Es ging dann nicht nur um Medikamente und Untersuchungen, sondern wir haben uns mehr oder weniger angefreundet. Ich wusste, wer drei kleine Töchter hat, wer im Urlaub war, wer auch schon mal Krebs hatte und sich deswegen für diese Station entschieden hat.

 

Am 21. Dezember wurden die Stammzellen in einem Beutel gebracht. Um Punkt zwölf wurde er angesteckt und genau eine Stunde später war er leer. Mir war die ganze Zeit schlecht und ich musste mich ständig übergeben, weil ich das Konservierungsmittel im Beutel, das die Blutgerinnung verhindert, nicht vertragen habe. Aber nachdem der letzte Tropfen drin war, habe ich gesagt: „Ich will unbedingt ein Müsli und ganz viel Milch!“ Die Schwester war schockiert: Milch nach einer Stunde übergeben? Aber ich habe ein Müsli mit einem halben Liter Milch gegessen und es ging mir blendend!

 

Ich war noch bis zum 14. Januar im Krankenhaus. Ich konnte nur liegen, also habe ich das Stricken angefangen, Schals und Stirnbänder. Ich habe auch gebastelt, weil ja Weihnachtszeit war, Fenstersterne und so was. Lesen war schwierig, ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich habe „Die Säulen der Erde“ oder „Die Tore der Welt“ angefangen, irgend so einen Roman, bei dem man auf nichts achten muss – aber nach einer Seite dachte ich: Was habe ich eigentlich gerade gelesen? Ich bin dann umgestiegen auf Lustige Taschenbücher. Ich habe auf der Quarantäne-Station auch die Feiertage verbracht. Meine Eltern und eine Krankenschwester waren Silvester bei mir und haben Sekt durch den Strohhalm getrunken, weil sie den Mundschutz nicht abnehmen durften.

 

Eines Morgens kam die Schwester rein und hat geflüstert: „Ich darf’s dir eigentlich noch nicht sagen – aber die Zellen sind gestiegen!“ Nachmittags kam der Arzt und sagte, dass sie gut angestiegen sind, auf über 100. Ich hab mich wie Bolle gefreut, denn wenn die Zellen nicht steigen, kannst du nichts machen. Dann stirbst du." 

Kapitel 5: Gesund werden

 

"Ich kann mich noch an den ersten Morgen zu Hause erinnern. Ich bin so gegen halb neun aufgewacht, weil ich nicht mehr müde war – nicht, weil mich jemand geweckt hat. Es war Wochenende, meine Eltern saßen schon beim Frühstück. Sie haben sich unterhalten, ansonsten war es ganz leise. Und da habe ich angefangen zu weinen. Mama hat gefragt: „Wieso weinst du denn? Es ist doch alles gut!“ Und ich habe gesagt: „Es ist so komisch. Keiner will was von mir, keiner weckt mich, ich krieg keine Anweisungen.“ Ich war das nicht mehr gewohnt. Über ein Jahr kam morgens jemand rein; Fieber messen, Medikamente nehmen, Blutdruck messen. Und jetzt konnte ich einfach in die Küche gehen und den Kühlschrank aufmachen, wenn ich Hunger hatte.

 

Die Zeit nach den Chemos und der Transplantation war schlimmer als die Behandlung selbst. Ein Jahr Behandlung –  und dann musste ich noch drei Jahre kämpfen. Ich habe versucht, wieder ins Leben zurückzufinden, das war gar nicht so einfach. Und ich musste mich auch immer wieder bremsen, weil es oft nicht so schnell ging, wie ich es gerne gehabt hätte. Ich musste meinen Körper langsam wieder aufbauen und der Körper ein neues Immunsystem.

 

Ich habe am Tag 25 Tabletten genommen. Bevor ich krank wurde, war ich gegen alles geimpft, jetzt musste ich mit den Impfungen von vorne anfangen und konnte alle Kinderkrankheiten wieder kriegen. Mein Alltag spielte sich zwischen Krankenhaus, Ärzten und der Apotheke ab. Ich durfte mir nicht mal meine Fuß- und Fingernägel selbst schneiden, sondern musste zur Pedi- und Maniküre gehen, weil ich hätte verbluten können, wenn ich mich geschnitten hätte. Und immer wieder war irgendwas: Ich brauchte eine zweite Transplantation, weil ich mit der Spende einen Herpes-ähnlichen Virus bekommen habe – der eigentlich überhaupt nicht gefährlich ist, aber wenn man kein Immunsystem mehr hat, ist quasi alles lebensbedrohlich. Dann sind meine Blutzellen nicht gestiegen und ich brauchte regelmäßig Transfusionen. Dann hatte ich Gürtelrose. Und so weiter. Du musst bei jeder Kleinigkeit den Ärzten Bescheid sagen."

Wie verläuft die Genesung?

 

Vor allem im ersten Jahr reift das Immunsystem, wird robuster und kann den Patienten zunehmend besser schützen. Man muss dem Immunsystem auch helfen, zum Beispiel mit Impfungen. Der alte Impfschutz geht mit dem alten Immunsystems verloren. Ein Patient bekommt aber den Impfschutz des Spenders zum Teil übertragen. Den muss man nach der Transplantation nur wieder auffrischen.

"Einmal bin ich gegen Mitternacht aufgewacht und hatte wahnsinnige Schmerzen in den Beinen, wie ein ganz krasser Krampf. Gegen halb fünf hat meine Mutter mich ins Krankenhaus gefahren. Kurz bevor wir da waren, ging die Sonne auf – und mit einem Schlag waren die Schmerzen weg. Ich bin in die Notaufnahme spaziert, in der alle schon gewartet haben, und kam mir so blöd vor. Ich wurde untersucht und es war nichts. Meine Ärztin sagte: 'Das waren Phantomschmerzen.'

 

2008 wurde ich langsam wieder in die Arbeit eingegliedert, stundenweise. Ich musste die Ärzte anbetteln, die wollten, dass ich von Erzieherin auf Bürokauffrau oder so umschule, weil Arbeiten mit Kindern für das Immunsystem natürlich das Schlechteste ist. Aber schließlich haben sie ihr Okay gegeben. Alle meine Freunde waren noch in der Schule, haben studiert oder Ausbildung gemacht, und mir war stinklangweilig. Ich wollte wieder eine Aufgabe."

In wie viel Prozent der Fälle führt eine Transplantation zur Genesung des Patienten?

 

Etwa jeder zweite Patient ist nach einer Transplantation geheilt. Die Heilungschance muss aber immer individuell abgeschätzt werden. Viele Faktoren haben hier Einfluss. Die Fitness des Patienten, Begleiterkrankungen, die Bösartigkeit der Blutkrebserkrankung und natürlich auch die Verfügbarkeit eines guten Spenders.

 

Kapitel 6: Was geblieben ist

 

"Mit mir waren fünf Mädchen im Krankenhaus und wir hatten uns zusammengetan, um die Krankheit gemeinsam zu bekämpfen. Wir alle hatten einen Spender – aber außer mir hat es aus der Gruppe nur noch eine geschafft, die anderen sind gestorben. Bei zweien stand ich am Grab. Das war schon heftig. Die haben genauso gekämpft wie ich, hatten den gleichen Ehrgeiz, aber sie haben es nicht geschafft."

Wieso kann es sein, dass man auch nach einer Transplantation der Stammzellen nicht gesund wird?

 

Man kann zwei Gruppen von Ursachen unterscheiden:

 

1. Der Rückfall. Das Risiko eines Rückfalls ist immer gegeben, weil manche Leukämiezellen in der Lage sind, sich der Attacke des gesunden Immunsystems zu entziehen.

 

2. Komplikationen durch die Behandlung selbst. Es kann sein, dass die Chemotherapie oder die Bestrahlung so schlecht vertragen wird, dass es dadurch zu schweren Infektionen kommt, an denen die Patienten sterben können. Oder es kommt zu einer Krankheit, die es nur nach einer Stammzelltransplantation geben kann: Die nennt sich Graft-versus-Host-Disease (GvHD), also Spender-gegen-Empfänger-Krankheit, bei der das Spender-Immunsystem gegen die Organe des Patienten wirkt. Dabei kommt es zu Entzündungen an den immunologisch besonders aktiven Organen, also an der Haut, an den Schleimhäuten, am Darm oder an der Leber. Die können zu einer schweren Funktionsstörung dieser Organe führen. Diese Entzündungen sind nicht durch Viren, Bakterien, Pilze oder Parasiten begründet, sondern durch das Immunsystem selbst.

 

Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer GvHD ist hoch. Ungefähr jeder zweite Patient macht Erfahrungen mit dieser unerwünschten Reaktion. Allerdings kann man die Symptome einer GvHD in aller Regel gut behandeln. In einigen Fällen greift die Behandlung aber nicht oder nicht vollständig.

 

"Ich weiß, dass es mir genauso hätte gehen können. Dass ich hätte sterben können. Darum habe ich damals angefangen, so viel zu erleben, wie es geht. Ich versuche, nichts aufzuschieben – wenn es machbar ist, mache ich es sofort. Ich will einfach noch die ganze Welt sehen! Ich wusste zum Beispiel immer, dass ich mir irgendwann einen Wohnwagen kaufen will. Und dann dachte ich: Worauf soll ich warten? Also hab ich mir einen Wohnwagen gekauft, mit dem Geld aus meinem Bausparvertrag, und war damit schon ein paar Mal im Urlaub.

 

Anfangs hatte ich einen Behindertenausweis mit 100 Prozent, jetzt habe ich unbefristete 60 Prozent. Erst konnte ich nur spazieren gehen, dann einen halben Kilometer laufen – heute schaffe ich zehn. Aber ich habe durch die Chemos eine eingeschränkte Lungen-, Leber- und Nierenfunktion. Das bedeutet, ich muss doppelt so hart trainieren wie früher – und komme trotzdem nicht auf den gleichen Stand. Ich bin wieder in meinem alten Schwimmverein, in der Hobbygruppe. Zeitgleich sind neben uns die Leistungsschwimmer, wenn die einfach so vorbeiziehen und ich kämpfen muss, um die Bahn überhaupt zu schaffen – dann weiß ich, dass ich es so weit nie wieder bringen werde.

 

Ich schaffe es auch körperlich nicht, jeden Tag von acht bis fünf zu arbeiten, deswegen arbeite ich halbtags. Ich habe einen Grauen Star, der ist durch die hohe Dosis an Kortison entstanden. Und ich habe immer noch keinen richtigen Haarwuchs und darum Extensions.

 

Die Transplantation ist jetzt neun Jahre her – mein Körper ist heute also mehr oder weniger auf dem Stand einer Neunjährigen. Die Ärztin sagt, ich bin im obersten Bereich, was meinen Immunstatus und meine Fitness angeht. Ich versuche, das Beste rauszuholen, und bin zufrieden mit dem, was ich erreicht habe. Ich freue mich einfach, meinen Körper wieder benutzen zu können. Ich habe mich früher extrem ungesund ernährt, heute ist das ganz anders. Mir ist jetzt einfach bewusst, dass mein Körper nicht aus Stahl ist und nicht alles mitmachen kann. Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal einen Kater habe, weil ich weiß, welche Arbeit mein Körper durchmachen muss, damit es mir wieder gut geht.

 

Ich will das nie wieder erleben. Es ist wie durch die Hölle gehen: wirklich, wirklich furchtbar. Aber meine Familie und meine Freunde standen immer hinter mir, wir waren eine richtig feste Gemeinschaft. Und wir alle haben auch unglaublich viel mitgenommen. Ich bin viel gelassener geworden und kann es viel besser annehmen, wenn was nicht klappt – dafür klappt dann eben was anderes. Und ich weiß, dass mein Weg immer weitergeht."

 

Wenn du selbst Menschen mit Blutkerbs helfen und als Spender in der Deutschen Knochenmarkspenderdatei aufgenommen werden möchtest, gibt es hier alle Infos zur DKMS und ihrer Arbeit.

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