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Kein Grund zur Panik

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Jetzt.de: Für das EU-Projekt „Geschlechterspezifische Gewalt, Stalking und Angst vor Verbrechen“ haben Sie 16.000 Studentinnen aus ganz Deutschland befragt. Warum ausgerechnet Studentinnen? Sind sie denn besonders gefährdet?
Katrin List: Erst mal bestätigen ja sehr viele übergeordnete Studien über Gewaltbetroffenheit, dass insbesondere jüngere Frauen von sexueller Gewalt betroffen sind. Und da man natürlich den Zugriff auf Studentinnen hier an der Uni Bochum hat, war es naheliegend. Hintergrund ist aber auch, dass die Universitäten zunehmend versuchen, mehr für die Studentinnen zu tun, zum Beispiel Beratungsgespräche anbieten. Unser Anspruch ist, den Hochschulen in Europa einen Leitfaden an die Hand zu  geben, wie sie Studentinnen vor sexualisierter Gewalt schützen können.  


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Katrin List möchte mit der Studie aufmerksam machen auf sexuelle Gewalt gegenüber jungen Frauen. Ein Grund zur Panikmache besteht für sie aber nicht.

Was genau untersuchen Sie im Rahmen des Forschungsprojekts?
Die zentrale Frage ist, ob Studentinnen in Europa zur Gruppe besonders gefährdeter Menschen für sexualisierte Gewalt gehören. Insgesamt nehmen fünf Länder an dem Projekt teil, die Studentinnen im Bezug auf ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung, Stalking und sexueller Gewalt befragen. Gerade sexuelle Belästigung ist überhaupt nicht im gesellschaftlichen Focus, weil es keine strafrechtlich relevante Tat ist. Dabei geben 70 Prozent der teilnehmenden Studentinnen an, dass sie im Laufe ihres Lebens schon mal sexuell belästigt wurden und 20 Prozent sagen, dass es ihnen während ihrer Studienzeit passiert ist.  

Wie definieren Sie denn sexuelle Belästigung? Dass drei Viertel aller Studentinnen schon mal sexuell belästigt wurde, erscheint doch etwas extrem.
Die geringfügigsten Möglichkeiten sind Nachpfeifen, obszöne Kommentare und anzügliche Witze. Es geht so weit, dass sich eine Person vor einer Studentin entblößt. Allerdings muss ich dazu sagen, dass unsere Daten auch zeigen, dass Nachpfeifen den höchsten Wert hat. Gefolgt von Kommentaren und Witzen.  

Nachpfeifen würden viele wohl nicht als sexuelle Belästigung verstehen.
Ja, das stimmt. Jungen Frauen passiert es häufig und es stört sie auch, aber sie haben das Gefühl, dass es so alltäglich ist, dass sie sich darüber nicht beschweren dürfen. Es ist auch ein Ziel unserer Studie, sexualisierte Gewalt zu thematisieren. Allein die Umfrage an der Universität hat für viel Gesprächsstoff gesorgt. Normalerweise werden Vorfälle wie Nachpfeifen als unangenehm empfunden, aber sofort ad acta gelegt. Viele Studentinnen haben jetzt erst begonnen, darüber nachzudenken, wie sehr sie das stört. Oder was wirklich als übergriffig interpretiert werden muss. Nicht jeder Studentin ist klar, welche Schritte sie unternehmen kann, um sich zu schützen. Sinnvoll ist zum Beispiel ein Ansprechpartner an der Hochschule, an den man sich wenden kann, wenn man sich ständig verfolgt fühlt.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Vor allem vor dunklen Parkplätzen fürchten Studentinnen sich am meisten.

Kann man sagen, dass bei den Befragten eine latente Angst vor sexuellen Übergriffen herrscht?
Die Kriminalitätsfurcht ist schon relativ ausgeprägt. Das ist natürlich eine sehr irrationale Furcht, die sich nicht nur auf Studentinnen bezieht. Es ist die Vorstellung von einem unbekannten Täter, der hinter dem dunklen Busch hervorspringt. Viele Studentinnen vermeiden es, nachts allein zu schlecht beleuchteten Parkplätzen zu gehen. Außerdem haben sie Angst vor dunklen Ecken im Universitätsgebäude. Dabei passieren die wenigsten Übergriffe im öffentlichen Raum oder an der Universität. Es passiert eher im nahen Bereich, oft sogar in der Wohnung, im Zusammenhang mit bekannten Personen, Exfreunden oder aktuellen Partnern. Das ist das eigentliche Problem: Frauen haben Angst vor Situationen, in denen meist eher nichts passiert.  

Wie viele Studentinnen sind tatsächlich von Stalking und sexueller Gewalt betroffen?
Zehn Prozent der Befragten fühlen sich während ihres Studiums von Stalkern verfolgt. Diese zehn Prozent werden in anderen Studien für das gesamte bisherige Leben von älteren Leuten berechnet. Das bedeutet, dass gerade Frauen in diesem jungen Alter betroffen sind. Rund 17 Prozent der Studentinnen geben an, im Laufe ihres Lebens von sexueller Gewalt betroffen gewesen zu sein. Allerdings nur vier Prozent während des Studiums.  

Was können die Universitäten machen, um den Studentinnen die Angst zu  nehmen?
Das können zum Beispiel bauliche Maßnahmen sein: beleuchtete Parkplätze, Handyempfang schaffen, wo im Moment noch Funklöcher sind. Außerdem ist es wichtig,  Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und Aufklärungsveranstaltungen anzubieten. Sinnvoll sind auch niederschwellige Beratungsangebote. Eine Onlineberatung wäre denkbar, weil viele sich oft nicht durchringen können, direkt mit jemandem zu sprechen. Möglich ist auch ein Begleitservice, der Frauen nach großen Veranstaltungen zu den öffentlichen Verkehrsmitteln begleitet. In Bochum bieten wir konkret Selbstbehauptungskurse an. Nicht nur zum körperlichen Abwehren, sondern auch, damit die Frauen sich stärker fühlen, „Nein“ sagen und Grenzen setzen können. Es hat sich gezeigt, dass die Frauen, die den Kurs gemacht haben, sich einfach sicherer fühlen.  

Wird in anderen Ländern bereits mehr gegen sexuelle Gewalt unternommen?
Die einschlägigen Untersuchungen kommen aus England und den USA. In den USA gibt es eine eigene Campuspolizei, die Vergehen mit bis zu sehr rigiden Strafen ahndet. Das liegt aber auch daran, dass dort häufig Übergriffe stattfinden, weil es in den USA eine Verabredekultur – oft auch mit Unbekannten – gibt. Die Mädchen fühlen sich einem hohen Druck ausgesetzt, sexuellen Handlungen zustimmen zu müssen. In England sind es vor allem Alkohol und Partydrogen, die zu großen Problemen führen. Beides lässt sich nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. Bei uns ist es zunehmend das Internet. Vieles passiert heute über Handy, eMail und soziale Netzwerke. Junge Frauen sollten darauf achten, keine Bilder von sich einzustellen, die eine gewisse Anrüchigkeit zeigen, zum Beispiel Fotos im Bikini. Und sie sollten nicht zu schnell zu vertrauensvoll auf das Gegenüber reagieren. Im Internet genauso wenig, wie auf Parties.  

Was raten Sie den Studentinnen, wie sie sich verhalten sollen?
Kein Grund zur Panik. Universitäten sind kein speziell gefährdeter Ort. Man sollte sich klar machen, wie man sich sowohl im universitären als auch im privaten Umfeld bewegt. Aber man muss nicht ständig mit Angst rumlaufen. Es ist sehr traurig, dass junge Frauen sich in ihrem Aktionsradius einschränken, sobald es dunkel ist. Einfache Vorsichtsmaßnahmen lassen sich trotzdem leicht ergreifen, zum Beispiel sich nicht allzu schnell auf seine scheinbare Menschenkenntnis verlassen.

Text: stefanie-heiss - Bilder: subwaytree / photocase.com, privat

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