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Studieren ohne Papiere

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Markus Kressler, Student aus Berlin, gründet gerade zusammen mit Freunden die Online-Universität Wings University. Dort können Flüchtlinge ohne Papiere studieren, zum Beispiel während sie auf ihren Aufenthaltstitel warten und nicht arbeiten dürfen. Zeugnisse und andere Dokumente brauchen sie erst kurz vor dem Abschluss. Spätestens im Frühjahr 2016 sollen die ersten Studiengänge starten.

jetzt.de: Markus, du gründest gerade eine Universität. Darf man das so einfach?
Markus Kressler: Grundsätzlich kann jeder eine private Uni gründen, ein paar Voraussetzungen gibt es aber schon. Laut Hochschulrahmengesetz braucht man mindestens sieben habilitierte Professoren, eine „funktionierende Universität, an der Lehre nach größter Qualitätsrichtlinie betrieben wird“, und die Studienprogramme müssen gewissen pädagogischen Ansprüchen entsprechen. Mit unserem Konzept ist das relativ einfach nachzuweisen, weil wir Kurse, die bereits an amerikanischen Elite-Unis akkreditiert wurden, in E-Learning-Kurse umarbeiten, und mit einer Partneruni zusammenarbeiten wollen, die im besten Fall Erfahrung mit E-Learning hat. Wir haben schon acht Professoren, die teilweise schon in Harvard unterrichtet haben.

Das wars?
Und man braucht eine Million Euro, die brach auf einem Konto liegt.

Ach so.
Das kommt daher, dass man als Privatuniversität Bankrott gehen kann und für diesen Fall eine Rücklage braucht, mit der man die Studenten fertig studieren lassen kann. Das Geld fehlt uns noch.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

2000 Anmeldungen in den ersten fünf Tagen: Markus' Idee findet viel Anklang. Er studiert Psychologie und Kommunikation in Berlin.

Wie bist du auf die Idee gekommen, eine Uni für Flüchtlinge zu gründen?
Grundsätzlich können auch Nicht-Flüchtlinge bei uns studieren, aber für Flüchtlinge und Papierlose ist sie sicher besonders interessant. Die Leute glauben immer, dass Flüchtlinge nichts haben und nichts können, aber das stimmt nicht. Als ich nach Berlin gezogen bin und in der besetzten Schule in Kreuzberg Flüchtlingen mit ihren Papieren geholfen habe, hat mir ein Flüchtling erzählt, dass er nur noch ein Jahr bis zu seinem Abschluss in Ingenieurwissenschaften gebraucht hätte und in Deutschland ein Jahr lang versucht hat, die nötigen Dokumente dafür zu bekommen. So geht es vielen. Hochqualifizierte Flüchtlinge würden gern ein Studium beginnen oder es abschließen, können es ohne Papiere oder Aufenthaltsgenehmigung aber nicht. Das hat mich berührt. Es gibt weltweit 52 Millionen Flüchtlinge, mit einer Unternehmensberatung haben wir ausgerechnet, dass sechs bis sieben Millionen davon studieren oder weiter studieren könnten.

Eine Uni ohne Zugangsvoraussetzungen, ohne Gebühren – klingt sehr nach Utopie.
Ist es aber gar nicht. Die Vorlesungen finden ausschließlich online statt. Wir haben dadurch viel geringere Kosten als eine normale Uni. Eine normale Uni gibt durchschnittlich 15.000 Euro pro Jahr für einen Studenten aus. Wir brauchen 700 bis 800 Euro im Jahr pro Student, das hoffen wir mit Spenden, Crowdfunding und Stiftungsgeldern zu stemmen.

Ist ein Studium ganz ohne Austausch untereinander nicht konterproduktiv für Integration?
Für Flüchtlinge ist eine Online-Universität die einzige Möglichkeit zu studieren, weil sie immer wieder an anderen Standorten untergebracht werden. Unsere Vision ist, dass wir Räume zur Verfügung stellen können, in denen sich die Studenten treffen, wie in einem Coworking-Space. Für die Lehre sehen wir online nur Vorteile. Nehmen wir mal BWL. Hier halten 300 Professoren jedes Jahr die gleichen Vorlesungen. Viele von denen sind didaktisch nicht besonders talentiert und mehr an der Forschung interessiert. Und es gibt die Vorlesungen der Weltbesten in ihrem Fach bereits online. Es ist viel sinnvoller, Vorlesungen online zu hören.

Die Mehrheit der Flüchtlinge will Ingenieurwesen, BWL oder Informatik studieren. Einen Bachelor kann man in einem Jahr durchziehen. 


Ist der Abschluss an deiner Uni dann auch anerkannt?
Als Übergangslösung bis wir selbst den Unistatus haben, wollen wir unsere Studenten bei Partnerunis einschreiben, dadurch haben sie Studentenstatus. Das komplette Studium und die Auswahl der Studenten, die Betreuung, die Korrektur der Examen, alles, was zu einem Studium gehört, übernehmen wir. Der Abschluss wird am Ende von unserer Partneruni verliehen, und erst dann, am Ende des Studiums, müssen die Studenten für ihren Abschluss ihre Identitäten nachweisen. Da wir Studiengänge online nachbauen, die offline bereits existieren, müssen sie nur noch online akkreditiert werden.

Welche Studiengänge werdet ihr anbieten?
Wir fangen mit Ingenieurwissenschaften, Informatik, Wirtschaftswissenschaften an. Wir haben fast tausend Flüchtlinge befragt, mit diesen drei Fächern decken wir 49 Prozent von dem ab, was Flüchtlinge studieren wollen. Danach sollen Agrarwissenschaften, Kommunikation und Politik folgen, damit decken wir 75 Prozent ab. Mehr geht fast nicht. 15 Prozent wollen Medizin studieren, das ist eines der wenigen Fächer, die man nicht online anbieten kann.

Wie wird das Studium konkret aussehen?
Wir gliedern die Studieninhalte in kleine Text- und Video-Häppchen, die man sich auf dem Smartphone oder Computer lesen und ansehen kann. Unterrichtet wird auf Englisch. Wir möchten das Studium so flexibel wie möglich gestalten: Es gibt keinen fixen Semesterbeginn, man kann jederzeit anfangen. Das Bachelorstudium kann man in einem Jahr oder in sechs Jahren durchziehen. Die Studenten können sich aussuchen, ob sie als Prüfung eine Hausarbeit oder Klausur schreiben oder mal in einem Seminar Blogbeiträge über ein Thema erstellen und präsentieren.

Haben Flüchtlinge denn Computer- und Internetzugang?
Der Zugang zu Wifi ist im Moment das größte Problem. In Berlin wird erst angefangen, Flüchtlingsheime damit auszustatten. In vier bis fünf Jahren wird das kein Problem mehr sein, dann wird im ganzen Land Breitband-Internet verfügbar sein. Wir werden eine App anbieten, mit der man sich die Videos, Unterlagen und Forenbeiträge in einen Zwischenspeicher laden und auch offline nutzen kann. Die Hardware ist tatsächlich fast kein Problem, viele Flüchtlinge haben einen Computer oder ein Smartphone oder wenigstens Zugang zu einem Computer.

Wie viele haben sich schon an deiner Uni eingeschrieben?
Wir haben knapp 5000 Anmeldungen aus 60 verschiedenen Ländern, dabei sind wir erst seit zwei Wochen an der Öffentlichkeit. Schon in den ersten fünf Tagen kamen 2000 Anmeldungen rein. Wir schätzen, dass im Frühjahr 100.000 Flüchtlinge bei uns ihr Studium beginnen.

Text: kathrin-hollmer - Foto: privat

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