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Es wird eng

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Foto: Juri Gottschall

Ich fahre nicht gern Aufzug. Bis ich anfing zu arbeiten, habe ich möglichst selten einen betreten, dann plötzlich täglich. Ich nehme das hin, so eine Fahrt zwischen fünf und 30 Sekunden ist ja zu kurz, um sich richtig unwohl zu fühlen. Aber lang genug, um sich ein bisschen unwohl zu fühlen. Irgendwas ist besonders im Aufzug. Man verhält sich anders, spricht anders, die Atmosphäre ist anders.

Den Aufzug gibt es erst seit etwa 160 Jahren. Er ist das einzige Transportmittel, das Menschen in der Vertikalen befördert, ein beengter Raum, den man oft mit Fremden teilt. „Es gibt wahrscheinlich kaum einen anderen Ort, an dem Anonymität und Intimität so zusammenkommen“, sagt Professor Andreas Bernard, der seine Promotion über die „Geschichte des Fahrstuhls“ verfasst hat.

Was passiert mit den Menschen, wenn sie Aufzug fahren? Gibt es bestimmte Aufzug-Verhaltensweisen? Einen Aufzug-Knigge? Ein spezielles Aufzug-Gespräch oder einen typischen Aufzug-Witz? Und wenn ja: Unterscheiden sie sich je nach Gebäude, in dem sich der Aufzug befindet? Je nach Zusammensetzung der Fahrgäste?

Um das herauszufinden, muss man länger mitfahren als fünf bis 30 Sekunden. Rauf und wieder runter und wieder rauf und wieder runter. In verschiedenen Aufzügen. Ich will das machen. Und suche mir drei aus, in denen ich jeweils etwa zwei Stunden verbringe:

1. Der SZ-Aufzug
Im Gebäude des Süddeutschen Verlags, 27 Stockwerke hoch, gibt es sechs Aufzüge, in jeden passen etwa 20 Menschen. In das Gebäude und in die Aufzüge darf nicht jeder rein. Deshalb fahren hier oft Kollegen oder vom Sehen Bekannte zusammen.

2. Der Aufzug im Kreisverwaltungsreferat München
Menschen gehen hier ins Bürgerbüro oder aufs Standesamt, sie melden Adressen um oder treten aus der Kirche aus. In der Mitte der offenen Eingangshalle gibt es zwei gläserne Aufzüge, aus denen man in die Halle und links und rechts in die Flure schauen kann. Ein öffentlicher Raum, jeder kann herkommen.

3. Der Olympiaturm-Lift
Der Olympiaturm in München ist ein beliebtes Ziel für Touristen, um auf die Stadt und die Berge zu schauen. Zwei Aufzüge für jeweils 30 Personen fahren mit sieben Metern pro Sekunde zur Aussichtsplattform auf 185 Metern Höhe. Mit einem Aufzugführer.

Der Raum
Der erste Mensch, den ich beim Aufzugfahren beobachte, bin ich selbst, im SZ-Hochhaus. Mir fällt auf: Ich stehe gern hinten links in der Ecke. Ich schaue mir an, wie sich zusteigende Fahrgäste bewegen. Jeder scheint mit dem Rücken zur Wand stehen zu wollen. Ein junger Mann macht einen Schritt in den Lift und dockt dann mit einer eleganten Drehung in der anderen Ecke an, mir gegenüber. Eine Frau lehnt sich daneben an die Wand.

Zur Mittagszeit werden die Aufzüge voll. Alle versuchen, einen Wandplatz zu ergattern. Es ist ein bisschen wie im Schulbus, nur mit etwas weniger Gedrängel. Wer es nicht schafft, muss in der Mitte stehen und dreht sich sofort mit dem Gesicht zur Tür. Deswegen bin ich später im Olympiaturm- Lift kurz irritiert: Herr Schell, der Aufzugführer, wendet seinen Fahrgästen das Gesicht zu. Ich fühle mich beobachtet, obwohl er leicht schräg an die Decke schaut.

Andreas Bernard erzählt mir von Erving Goffman, einem US-Soziologen, der in den Siebzigerjahren ebenfalls Menschen in Aufzügen beobachtet hat. „Er hat gesehen, dass es im Aufzug ein immergleiches Gesetz der Verteilung gibt“, sagt Bernard. „Der Erste bewegt sich frei, der Zweite stellt sich diagonal zu ihm, der Dritte und der Vierte in die dritte und vierte Ecke, der Fünfte in die Mitte. Danach wird es schwierig.“ Heißt: Es wird eng.

Die Intimität
Die Proxemik, eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Distanz zwischen Individuen beschäftigt, hat die Abstände definiert, die wir anderen gegenüber einhalten, um uns wohlzufühlen. Die „persönliche Distanz“, zum Beispiel in einem Gespräch, liegt bei 45 bis 120 Zentimetern, die „Intimdistanz“ bei unter 45 Zentimetern. Im Aufzug können beide leicht unterschritten werden.




„Intim“ ist ein Wort, das gut zum Fahrstuhl passt. Fast alle Aufzüge, die ich benutze, sind verspiegelt, sodass ich mich sehr auf mich selbst zurückgeworfen fühle, wenn ich allein bin. Meistens richte ich meine Frisur aber wende sofort den Blick vom Spiegel ab, wenn die Fahrt stoppt. Ich will ja nicht eitel wirken.
Der Moment, bevor die Tür aufgeht, ist seltsam. Wer wird dahinter sein? Ungefähr so müssen sich die Teilnehmer in der Fernseh-Flirtshow „Herzblatt“ gefühlt haben. Was danach kommt, ist allerdings das Gegenteil von Flirten: Jeder versucht, den Blickkontakt zu vermeiden. Ich starre meistens auf die Stockwerkanzeige. Im SZ-Aufzug gibt es einen Bildschirm, auf dem die Nachrichten durchlaufen vermutlich nur, damit man einen Fixpunkt hat. Im Kreisverwaltungsreferat lesen viele das Infoschild, auf dem steht, was sich in welchem Stockwerk befindet. Sie lesen es hochinteressiert und viel zu lang.

„Das sind Übersprungshandlungen“, sagt Andreas Bernard. „Man muss die peinliche Situation überspielen.“ Denn das Gefühl, das einen im Fahrstuhl so beklemmt, ist vor allem: Scham. In seinem Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ aus dem Jahr 1903 schreibt der Soziologe Georg Simmel über die damals ganz neue Kulturleistung des Menschen, in der Großstadt zu leben: Auf dem Land lebte man in Ruhe und im kleinen Kollektiv, in der Stadt aber herrscht ständige Reizüberflutung und Anonymität; um das nervlich stemmen zu können, musste man zwangsweise abstumpfen, sich abschotten und hörte am Ende auf, die Nachbarn zu grüßen. Daraus hat sich entwickelt, was wir heute jeden Tag sehen: Wir sitzen in der S-Bahn oder im Bus mit unzähligen fremden Menschen eng beieinander und trotzdem ist jeder für sich. Wir lesen Zeitung, sehen aus dem Fenster oder auf unsere Handys. Das ist ganz normal. Aber im Aufzug: zu kurz die Fahrt, um etwas zu lesen, kein Fenster da und meistens auch kein Handyempfang. Dort sind wir irritiert von der Nähe und versuchen, uns „in einer Begegnung möglichst nicht zu begegnen“, wie es in einem Artikel im Manager Magazin über das Aufzugfahren heißt.

Im Olympiaturm-Aufzug ist es am einfachsten, die Situation zu überspielen. Zum einen gibt es eine Ansage vom Band, die Details zum Turm und zum Olympiapark erklärt. Das lenkt ab. Zum anderen ist da der Druck auf den Ohren. Viele stöhnen gemeinsam auf, wenn der Aufzug bremst. Menschen, die sich gleichzeitig die Nase zuhalten, grinsen sich an. Der Ohrendruck verbindet die Fahrgäste, die sowieso schon mehr miteinander verbunden sind als anderswo: Sie alle machen einen Ausflug, sie haben alle das gleiche Ziel.

Auf dem Amt ist das anders. Von allen Orten, an denen ich den Aufzug nutze, gibt es dort die irritierendsten Situationen. Die, die wirklich gleichzeitig anonym und intim sind. Zum Beispiel, als eine Frau und drei Männer einsteigen. Sie sind chic angezogen und reden leise auf Türkisch miteinander. Die Frau riecht nach Parfüm und Zigaretten und hat eine Traube heliumgefüllter Herzluftballons dabei, die kaum in den Aufzug passt. Der jüngste der Männer nestelt an seinem Sakko herum, der älteste drückt die Fünf. Auf dem Infoschild steht: „5. OG: Referatsleitung; Trausäle“.

Irgendwann später kann ich riechen, dass die Gruppe wieder runtergefahren sein und ich sie verpasst haben muss – der Geruch von Parfüm und Zigaretten hängt in der Luft. Irgendjemand ist jetzt verheiratet, und ich war fast dabei.

Die Gespräche
Dass wir das Nicht-Kommunizieren in Verkehrsmitteln erst lernen mussten, dazu kann Andreas Bernard eine Anekdote erzählen, von einem Onkel aus Niederbayern, der in den Sechzigerjahren nach München kam. „Er hat es nicht ausgehalten, stumm Straßenbahn zu fahren er hat jeden begrüßt.“ Im Aufzug wird man schnell zum Onkel aus Niederbayern: Keiner würde Hallo und Tschüss sagen, wenn er Tram fährt, aber im Lift scheint das Grüßen ein ungeschriebenes Gesetz zu sein. Sogar im Aufzug auf dem Amt, in dem ansonsten viel geschwiegen wird und wo die Menschen sehr bei sich sind: Paare reden leise miteinander („Es gab übrigens keinen Blumenkohl mehr …“), maximal fragt jemand, wo denn das Geburtenbüro sei. Aber meistens: Stille.

In den anderen Aufzügen wird immer wieder versucht, diese Stille zu durchbrechen. Je länger ich fahre, desto besser kann ich mit der Situation spielen. Am Nachmittag stehe ich mit einem Kaffee im SZ-Lift, mir gegenüber ein älterer Herr. Ich schaue ihn kurz an. Ein zweites Mal. Ein drittes Mal. Endlich reagiert er. „Käffchen, damit der Motor nicht stottert?“, fragt er. Wir lachen. Sobald jemand etwas sagt, und sei es auch Nonsens, ist das unfassbar erleichternd. Wie Durchatmen.

„Das grundsätzliche Temperament der Leute zeigt sich im Fahrstuhl ganz klar“, sagt Andreas Bernard. „Wer ruhig ist, zieht sich zurück. Wer extrovertiert ist, dreht auf.“ Der Fahrstuhl sei eine Art soziale Experimentiermaschine: „Sag mir, wie du dich im Fahrstuhl verhältst, und ich sage dir, wer du bist.“ Wenn die SZ-Fahrstühle voll sind, kann man das gut beobachten. Die einen schweigen, die anderen werden zu Unterhaltern und machen naheliegende Witze: „Nehmen Sie mich noch mit?“ Sie scherzen über den vollen Aufzug, über das Essen in der Kantine, über Berufliches. Und sie sprechen dabei sehr laut. Sie beziehen alle mit ein und schaffen eine Kurzzeit-Gemeinschaft. Meistens macht es das leichter, die Sekunden in der engen Kiste auszuhalten.

Herr Schell, der Aufzugführer im Olympiaturm, beobachtet seit drei Jahren die Fahrgäste hier. Er ist also Experte für Aufzug-Gespräche und -Scherze. Typische Fragen: „Wie oft am Tag fahren Sie?“ oder „Macht Ihnen das noch etwas aus?“ Die Italiener, sagt Schell, zählen oft laut die Höhenmeter mit, warum ausgerechnet sie, weiß er nicht. Studenten reden generell viel, über die Uni meist. Eltern sagen ihren Kindern mit Ohrendruck laufend: „Du musst schlucken, schluuucken!“ Und Schüler in Gruppen tun beim Anhalten gern so, als müssten sie sich übergeben. Sie finden das witzig und wollen natürlich, dass alle sie dabei sehen.

Und dann noch die Angst
Wie gesagt: Ich fahre nicht gern Aufzug. Das geht vielen so, die Enge macht’s, das Eingesperrtsein. „Die Klaustrophobie ist erst mit dem Fahrstuhl entstanden“, sagt Andreas Bernard. „1879 wurde sie zum ersten Mal beschrieben und war sofort an den Fahrstuhl gebunden.“

Vielleicht muss man sich einfach damit konfrontieren. Denn nachdem ich mehrere Stunden in Aufzügen herumgestanden habe, fühle ich mich darin wohler. Sicherer. Ich habe das Gefühl, diesen seltsamen Nicht-Ort besser zu verstehen und besser einschätzen zu können. Das merke ich, als ich auf einer Aufzugfahrt in die Kantine auf und ab springe, um den anderen zu zeigen, wie der Fahrstuhl dann schwankt. Mir macht das Spaß. Aber mein Chef, der hat Angst.


Text: nadja-schlueter - Nadja Schlüter. Foto: Juri Gottschall

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