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Freitagabend, eine kleine Sporthalle in München-Trudering: Der abgestandene Schweiß von 40 Pubertierenden liegt in der Luft, die Teenager selbst liegen auf dem Boden, sie hören zu. Die Stadtschülervertretung (SSV) konferiert zwei Tage lang: Pizza essen, Gemeinschaftsgefühl stärken, Workshops durchführen und Anträge diskutieren. Was man hier nicht vermutet: die Basis einer grundlegenden Änderung des bayrischen Schulsystems.
 
Am Kopf der Turnhalle spricht eine zierliche, junge Frau – rotes Haar, weiße Bluse, wache Augen, durchgedrückter Rücken. Theresa Anne Panny, 22, erklärt gerade ihre Vision. „Ich möchte eine öffentliche Debatte in Gang bringen“, sagt sie. Oder: „Es braucht einen langen Atem, aber den habe ich.“ Sie sagt auch: „Viele kommen aus der Schule heraus und wissen gar nicht, wer sie sind und was sie wollen.“ Theresa weiß es. Sie will an ihrer Schule, der Fachoberschule (FOS) für Gestaltung, „offene Bildungsräume“ als Pilotprojekt einrichten. Zimmer also, die die Schüler alternativ zum Unterricht besuchen dürfen. Raum für Eigeninitiative und Persönlichkeitsentwicklung. Jeder kann sich dort mit dem beschäftigen, was ihn oder sie interessiert – der Philosophie Kants, den Mendelschen Regeln der Vererbung, den Ereignissen der Fußball-Bundesliga. Und zwar anstelle des normalen Schulstoffs. In der Truderinger Turnhalle versucht Theresa, die versammelte SSV von ihrer Idee zu überzeugen. Nervös wippt sie von einem Fuß auf den anderen, lacht verlegen, wenn sie den Faden verliert, dreht sich kurz weg, setzt erneut an.
 
Seit Monaten steht Theresa ziemlich allein gegen das System. Es ist ein System, das sie verabscheut. So sehr, dass sie sich seit Mitte Februar jeglicher Notengebung verweigert. Bei Prüfungen gibt sie ein weißes Blatt ab. In dieser Woche hätte sie, die Klassenbeste, Abiturprüfungen gehabt. Eigentlich.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Theresa war Klassenbeste - in einem System, das sie ablehnt. Im Februar entschied sie: Schluss. Seitdem hat sie keinen Test mehr geschrieben, keine Prüfung mehr abgelegt.
 
In einem Café am Sendlinger Tor wird die cremige Kokossuppe langsam kalt und setzt eine Haut an. Theresa macht kaum eine Pause, während sie ihre Haltung erklärt. „Ich habe in den vergangenen Jahren mehr und mehr darum gerungen, meine Lebendigkeit zu erhalten. Das war mit dem Leistungsdruck in der Schule nicht vereinbar“, sagt sie. Anstatt sich mit Dingen zu beschäftigen, die sie interessieren, würden Schüler mit aufgezwungenen Lerninhalten zu Passivität erzogen. Prüfungen stünden über Bildung. „Von guten Noten habe ich mein Selbstwertgefühl abhängig gemacht“, sagt Theresa. Vor Klausuren habe sie sich erbrochen. Im Februar entschied sie: Schluss. Seitdem hat sie keinen Test mehr geschrieben, keine Prüfung mehr abgelegt, keinen Abgabetermin mehr eingehalten. Und fühlt sich? „Lebendig“.
 
Anfangs sei sie wütend gewesen, sagt Theresa. Rebellisch. Sie wollte eine große Schülerschaft organisieren, die den Weg mit ihr gemeinsam geht. Sie versuchte, Klassenkameraden und Schülervertretung von ihrem Weg zu überzeugen. Bei einem Vortrag ging sie ungefragt auf die Bühne und warb für die „Abschaffung der Leistungsnachweise“ – stürmischer Applaus. Mit ihrem Vorhaben blieb sie dann trotzdem allein. Anschließen wollte sich ihr niemand. „Das war allen eine Nummer zu groß.“ Ihr eigener revolutionärer Geist war schnell gestutzt. Stattdessen: Frustration.

Ihre eigenen Eltern glauben nicht, dass Theresa etwas mit ihren Ideen erreichen kann

 
Es blieb nicht das einzige Scheitern. Ihre Eltern – die Mutter Förderlehrerin, der Vater pensionierter Sozialpädagoge – strichen ihr als erstes die monatliche Überweisung. Seitdem arbeitet Theresa als Elternassistentin für eine behinderte Mutter. Ihre eigenen Eltern glauben nicht, dass Theresa etwas mit ihren Ideen erreichen kann. „Versponnen“ nannten sie sie. Bildungsorganisationen, zu denen Theresa Kontakt suchte, äußerten Skepsis. Ein Mail-Verteiler, in den sich etwa 50 Interessierte ihrer Bildungsvision von einer „Umstellung des Müssens auf das Dürfen“ eingetragen hatten, blieb ohne Resonanz. Niemand antwortete. Revolution? Vertagt. Nach nur einer Woche war der Versuch, das Notensystem abzuschaffen, gescheitert. Nur Theresa verweigerte sich weiter.
 
Denn bleiben, wie es war, sollte das System nicht. Während der Osterferien kam ihr eine neue Idee. Alternativangebote zu den Zwängen des Unterrichts: die offenen Bildungsräume. Theresa stellte dem neuen Schulleiter Helmut Schmid die Idee vor, überzeugte Lehrer, organisierte Zimmer und – wartete. Anfangs kamen nur zwei Schüler, am Ende der zwei Wochen waren es etwa zehn. Theresa schwärmt von „Aufbruchsstimmung“ und einem „Gefühl der Freiheit“. Es klingt sachlich und entschlossen, wenn sie spricht. Sie hat einen ganzen Stoß Unterlagen dabei, Konzeptpapiere, E-Mails, Projektideen, ihr letztes Zeugnis von vor der Verweigerung: vier Einser, sechs Zweier. Jeden Termin, den sie vereinbart, trägt sie in ihren kleinen, roten Kalender ein. Unreflektierte Träumerei sieht anders aus.
 
Ihr Konzept für die offenen Bildungsräume hat die 22-Jährige niedergeschrieben: Jeder Lehrer soll selbst entscheiden, ob er seine Schüler freistellt. Es gibt einen stillen Arbeits- und einen Gesprächsraum. Es besteht Anwesenheitspflicht – entweder im Regelunterricht oder im Bildungsraum. Lehrstoff, der versäumt wird, muss eigenständig nachgearbeitet werden. Und die Schüler legen ein Notenziel fest. Wenn sie es nicht erreichen, müssen sie mit dem Lehrer sprechen, ob sie weiter teilnehmen dürfen. Das ist weit weg vom einstigen Maximalziel. Und trotzdem noch viel. In ihrem Konzeptpapier benutzt Theresa Worte wie „Antagonismus“, „Kompetenzpersonen“ und „Vision“.
 
Mit dieser Vision ist allerdings seit vergangenem Freitag Schluss. Theresa musste erkennen: Eine Änderung des Schulsystems ist nicht auf dem kurzen Dienstweg möglich. Klein anfangen und Schritt für Schritt größer werden, das ist der offizielle Weg. Der einzige Weg wohl auch. Und am Anfang steht die SSV – das hat Schulleiter Helmut Schmid im Gespräch mit Theresa deutlich gemacht.
 
„Es ist natürlich toll, wenn eine Schülerin sich engagiert. Als Systemvertreter muss ich aber natürlich auf Schulordnung und Schulgesetz verweisen“, sagt Schmid dazu in einem Telefonat. Schüler vom Unterricht zu befreien, das sei so leicht nicht möglich. Und außerdem eine Kostenfrage: Wissenschaftliche Begleitung, Räumlichkeiten, Projektvorbereitung seien erforderlich. Grundsätzlich sei er für „gute Ideen, die unsere Gesellschaft weiterbringen“, immer offen. Ansätze wie Theresas offene Bildungsräume seien inhaltlich allerdings nah an anderen Konzepten, zum Beispiel dem der Montessori-Schulen.
 
Für die Revolution bleibt also nur die Turnhalle von Trudering. Dort diskutiert die SSV nach Theresas Rede zwischen Turnmatten und Handballtoren so intensiv wie nie: Sollte man die offenen Lernräume als Pilotprojekt an der FOS für Gestaltung vorschlagen? Ist das realisierbar? Für welches Alter sind die Bildungsräume geeignet? Ergibt das überhaupt Sinn?
 
Ergibt es, lautet das Ergebnis der Abstimmung. Die Münchner Stadtschülervertretung hat sich mit großer Mehrheit für das Pilotprojekt an der FOS für Gestaltung ausgesprochen. System-Revolution sieht allerdings anders aus. Vorerst bleibt es nicht mehr als ein Etappenziel. Eine verbindliche Entscheidung wird es wohl frühestens 2015 geben.
 
Aber ein Anfang ist gemacht: Die SSV hat zusammen mit Theresa einen Arbeitskreis aufgestellt, der das Projekt als sogenannten Schulversuch im Stadtrat einbringt. Anschließend werden sowohl das Münchner Referat für Bildung und Sport sowie danach das Kultusministerium beteiligt. Scheitern kann die Idee auf jeder Ebene. Aber auch dann hätte die Rede in der Turnhalle etwas gebracht: Zumindest allein ist Theresa seit Freitag nicht mehr.


Nachtrag 31. Mai 2014: Theresa hat uns gebeten, die Aussage, ihre Eltern hätten ihr die finanzielle Unterstützung sofort gestrichen, zu präzisieren. Wie sie im Nachhinein klarstellt, hätten ihre Eltern bis August weitere Unterhaltszahlungen leisten, also eine Kulanzphase gewähren wollen. Theresa selbst konnte es schließlich nicht mit sich vereinbaren, weiterhin Geld von ihren Eltern anzunehmen.


Text: michel-winde - Foto: juri-gottschall

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