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Das Führungszeugnis

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•Die Biertour (Lisa): „Regel Nummer eins: Kotzt mich nicht an.“ Reiseleiterin Diana zwinkert uns zu. Ich bin auf der „Munich Beer Tour“. Im Internet steht, dass ich heute Saufsongs, Trinktraditionen und die besten Münchner Brauhäuser kennenlerne. Wir trinken das erste Bier an einem Ort, an dem ich noch nie Bier getrunken habe: vor der Currywurstbude am Hauptbahnhof. Neben mir stehen zwei Chinesen, eine Japanerin, ein Australier und drei Amerikaner in Funktionskleidung. Tourguide Diana kommt aus Philadelphia, sie bringt uns zuerst bei, wie man „Prost“ sagt. Unter ihrer Aufsicht stoßen wir an und gucken uns dabei tief in die Augen. Weil wir sonst, wie sie sagt, sieben Jahre schlechten Sex haben. „Und ihr wisst, Jungs: Am Ende habt immer ihr die Verantwortung, wenn es im Bett nicht läuft.“

•Die Mystik-Tour (Mercedes): In der Abenddämmerung stehen wir zu fünft vor dem Alten Rathaus am Marienplatz. Unsere Führerin Carola, Ende 40, kurzes schwarzes Haar und Leopardenschal, zwei ältere Damen und ein Pärchen mit Chucks und Parkas. Carola fragt: „Seid ihr alle Münchner? Weil ich red’ Bairisch.“ Sind wir. Und wir sind hier, um die mystischen Ecken der Münchner Innenstadt kennenzulernen. Carola erzählt zum Einstieg von der Entstehung Münchens, von den Hunnen und den fliehenden Mönchen aus dem Kloster Schäftlarn. Dann zeigt sie uns den Heiligen Onuphrius, der auf die Hausfassade des Rischart gemalt ist: „Dem muss man täglich in die Augen schauen, dann passiert einem nichts. Und das stimmt wirklich“, sagt sie. „Einmal hab ich’s nicht getan und mir gleich die Hand gebrochen.“ Weiter zu einer Statue vor dem Spielzeugmuseum: Shakespeares Julia, ein Geschenk aus Verona. Die linke Brust glänzt golden vom vielen Reiben. „Die Männer denken, das bringt Glück in der Liebe und der Ehe“, sagt Carola.

•Die Hitler-Tour (Juliane): „Not the first, not the second, but Third Reich Tour“, ruft Stefan. Er steht auf dem Marienplatz, um ihn herum ein gutes Dutzend Touristen. Drei Jungs mit Bürstenhaarschnitt und riesigen Sportschuhen aus Chicago, eine Großfamilie mit Teenager-Sohn aus Texas, ein tief gebräunter Herr aus Kalifornien und ein Chinese aus Shanghai. Zweieinhalb Stunden wird Stefan uns nun durch „Hitler’s Munich“ führen. Unser erster Stopp liegt etwa 20 Schritte entfernt, im Durchgang zum Innenhof des Neuen Rathauses. Wir halten vermutlich nur hier, weil wir so niemandem im Weg stehen. Unter Stefans Arm klemmt eine Mappe mit Klarsichthüllen. Er zieht ein Bild hervor: das älteste Kinderfoto von Hitler. Das Grauen in klein und putzig.

•Die Comedy-Tour (Jan): Am Busbahnhof an der Hackerbrücke geht es los – mit einer Flasche Paulaner und zwei Regeln. Das Paulaner verteilt Fahrer Sepp beim Einsteigen, die Regeln erklärt Marion, die Moderatorin. Sie steht vorne im vollgepackten Reisebus und spricht in ein Mikrofon. „Regel Nummer eins: Diese Tour ist eine Tschüss-freie Zone.“ Mini-Gelächter. „Es heißt Pfiat’di, Habe d’Ehre oder Grias Gott!“ Lauteres Gelächter. „Die zweite Regel: Wer Franz Josef Strauß nicht kennt, steigt sofort aus und googelt ihn.“ Donnerndes Gelächter. Die nächsten 90 Minuten wird uns Marion, Kapuzenpulli, Ugg-Boots und bayerischer Zungenschlag, die Stadt vom Bus aus erklären. Neben ihr sitzt Sepp am Lenkrad und steuert die Soundanlage. Am Karolinenplatz stoppt er den Bus. Über den Dächern sieht man die zwei Türme der Frauenkirche. „Gebaut im 15. Jahrhundert“, sagt Marion, „und so groß wie die österreichische U-Boot-Flotte. Nämlich drei Schiffe.“ Dann tritt Sepp aufs Gaspedal und der Bus dreht fünf Runden um den leeren Kreisverkehr. Die Gäste krallen sich in die Sitzlehnen und lachen. Marion erklärt: „So fühlen wir Münchner uns nach vier Maß auf der Wiesn.“

•Die Tatort-Tour (Feline): Wir treffen uns am Platzl vor dem Orlandohaus. Zwei Pärchen, eine Frau mit Reiserucksack und eine Familie. Unser Stadtführer Tobias will uns die Tatorte berühmter Kriminalfälle zeigen. In der Maximilianstraße stoppen wir vor einem Uhrenladen. Rudolph Moshammer führte hier einst sein Modegeschäft. Mit einem weißen Rolls Royce, erzählt Tobias, sei Moshammer durch die Maximilianstraße gefahren und erst dann ausgestiegen, wenn er sicher sein konnte, dass ihm genügend Menschen dabei zusehen. Im Januar 2005 wurde er in seiner Villa tot aufgefunden. Damit war der Tatort zwar genau genommen in Grünwald, nicht hier, aber Grünwald wäre vermutlich zu weit außerhalb.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Viele Wege führen durch München. Auf dem Mittleren Ring (blaue Tour) ist es offenbar besonders lustig.

•Der Teenager aus Texas starrt seit Minuten auf die Pflastersteine im Alten Hof, während Tourguide Stefan erklärt, wie Kommunisten und Rechte die Weimarer Republik in die Zange nahmen. Er erzählt von Hitlers Eintritt in die Partei und vom Aufstieg der NSDAP von München aus. Hitler habe in seinen Zeiten als Straßenmaler auch den Alten Hof gemalt. Er zieht noch ein Bild aus der Mappe.

•Das Paulaner im Tal. Unsere leeren Flaschen von eben stellen wir auf die Straße. Ein Helles kostet fast fünf Euro. Nur das erste und letzte sind im Preis inbegriffen. Die Chinesen teilen sich eins. Die Stadtführerin trinkt Schnaps. Weizenallergie. Die Japanerin Mokoto nimmt ein Helles, die Männer trinken alle Starkbier, klar. Mokoto wird von Schluck zu Schluck röter im Gesicht. Als die Führerin Diana uns zum Gehen drängt, ist mein Bier noch halbvoll. Ich kippe den Rest runter.

•Wir schauen an der Ostfassade des Alten Peters nach oben. Angeblich ist der Kirchenhügel ein Kraftort, weil dort ständig Blitze einschlagen. „Und da im dritten Bogen rechts, seht ihr den schwarzen Punkt?“, fragt Carola. „Da steckt bis heute eine Kanonenkugel drin, die einst ein österreichischer Soldat aus Versehen in die falsche Richtung geschossen hat.“

•Residenzstraße, kurz vor der Feldherrnhalle. Unser Guide erzählt, dass die Gegner des NS-Regimes lieber durch die Viscardigasse gingen statt über den Odeonsplatz – damit sie vor der Feldherrnhalle nicht den dort erwarteten Hitlergruß machen mussten. Sehr widerständlerisch betreten wir den Odeonsplatz erst nach einem Umweg durch die kleine Gasse.

•„Liebe Preußen und Ausländer“, dröhnt es aus den Boxen im Bus. Es ist soweit: Die Kölner, Hamburger, Leipziger und ich bekommen einen Bairisch-Kurs. Draußen ziehen der Mittlere Ring und die nächtliche Leopoldstraße vorbei, aber raus schaut gerade niemand, denn auf den Monitoren im Bus erscheint ein Text wie in einer Karaokebar: „Aha, do schau her – und i hob ma denkt, in Minga läfat Leid oiwei in Tracht umanand.“ Jörg aus Köln muss erst vorlesen, dann übersetzen. Bei „owei“ gerät er ins Stocken. Heißt das „gerne“? Oder „oft“? Nichts zu machen. Führerin Marion gibt ihm trotzdem ein Fläschchen Kräuterschnaps zur Belohnung.

•Es war ein heißer Sommer 1919, als der 16-Jährige Joseph Apfelböck seine Mutter erschoss. Sie hatte ihm nicht erlaubt, Filmvorführer im Kino zu werden. Genauer gesagt: im Kino an der Theatinerstraße. Dort stehen wir jetzt, während unser Führer Tobias erzählt, wie der junge Mörder anschließend ein Bier mit seinem Vater trank, bevor er ihn auch erschoss. Dann wohnte er drei Wochen lang mit den toten Eltern in einem Haus, bis seine Freunde auf den Geruch aufmerksam wurden. Wir tauschen angewiderte Blicke aus.

•Drei Bier später – oder waren es vier? – sitzen wir im Augustiner Brauhaus. Mir ist warm, die Japanerin Mokoto ist knallrot im Gesicht. Über Bier habe ich fast nichts gelernt, über München auch nicht. Führerin Diana hat zwar immer wieder versucht, etwas zu erklären, aber unsere Gruppendynamik lässt die Aufnahme von Informationen nicht mehr zu. Dafür habe ich aber anderes von meinen neuen Freunden erfahren: Chinesen gucken fast nur japanische Pornos. Hongkong-Girls nehmen nie einen Geldbeutel mit, wenn sie mit einem Mann unterwegs sind. Chinesische Ärzte raten Männern, die aus dem Japan-Urlaub zurückkommen, wegen der Strahlenbelastung in den nächsten sechs Jahren keine Kinder zu kriegen. In welcher Stadt bin ich nochmal? Egal, wir lachen uns schlapp.

•Unsere Tour endet an der Frauenkirche, vor der Grabplatte der Petronella, einer alten Witwe, die bei Männern wegen ihres Reichtums sehr begehrt gewesen sein soll. Bis heute, sagt Führerin Carola, verschwinden an dieser Stelle manchmal Männer, weil sie vom Lächeln der Witwe auf der Grabplatte in ihren Bann gezogen werden. Zum Abschied bekommen wir eine Stempelkarte. Gut zu wissen: Die zwölfte Mystik-Tour ist umsonst.

•Königsplatz, Hochschule für Musik und Theater – der ehemalige „Führerbau“. Nach knapp zweieinhalb Stunden Laufen und Stehen setzen wir uns auf die Treppenstufen in der Eingangshalle. Tourguide Stefan fragt, ob wir jetzt genug Nazi-München gesehen haben – oder noch Lust auf die „Extended Third Reich Tour“ hätten? Doch erstmal gibt es Fragen aus der Gruppe: Woraus ist der Fußboden des „Führerbaus“? Marmor. Wo war eigentlich Hitlers Büro? Über dem Eingang. So wie wir auf der Treppe sitzen, könnten wir eigentlich gut ein Gruppenfoto machen. Aber offenbar finden das alle geschmacklos.

•Wir lehnen an der Bar in einem Hostel am Hauptbahnhof. Es gibt Jägermeister und Bier umsonst. Und endlich: Gruppenfotos mit glückstrunkenem Lächeln. Führerin Diana sagt: „Ich muss jetzt los, Leute. Ihr wisst, was zu tun ist, wenn jemand kotzen muss: Lacht ihn aus und macht Fotos.“

•Der Bus stoppt vor dem Teich am Schloss Nymphenburg. Wir erfahren: Kurfürst Ferdinand ließ das Schloss im 17. Jahrhundert für seine Frau bauen, zum Dank für den lang ersehnten Sohn Max Emanuel. „Und was kriegen wir Frauen heute zum Dank für ein Kind?“, fragt Moderatorin Marion. „Schwangerschaftsstreifen und 15 Kilo Übergewicht.“ Maximales Gelächter. Dann senkt sie die Stimme und murmelt verschwörerisch: „Manchmal, in dunklen Nächten, sieht man hier draußen Sternschnuppen.“ Die Preußen und Ausländer im Bus kneifen die Augen zusammen und starren aus den Fenstern, und tatsächlich: Da zieht ein Funken sprühender Stern am Bus vorbei! Aber es ist nur Busfahrer Sepp, der unbemerkt ausgestiegen ist und mit einer brennenden Wunderkerze um den Bus läuft.



Text: jetzt-redaktion - Texte: Lisa Altmeier, Juliane Frisse, Feline Gerstenberg, Mercedes Lauenstein, Jan Stremmel Illustration: Marie-Claire Nun

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