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Der Vier-Zentimeter-Schal und ich

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Die Masche sieht nicht so aus, wie sie aussehen soll. Es ist der dritte Anlauf und ich werde zu der Kathrin, die in der dritten Klasse jede Woche im Handarbeitsunterricht mindestens einmal ihre Stricknadeln in Richtung Tafel geschleudert hat. Wenigstens schießen mir dieses Mal keine Tränen in die Augen, es gibt keine Noten und die Lehrerin ist heute auch viel netter als damals.

Mit 14 anderen jungen Frauen sitze ich im Englischen Garten. Aus einem Lautsprecher in der Nähe hört man Deichkind und Rihanna, drei Jungs spannen ein Slackline-Seil auf und deuten immer wieder auf die drei Oben-Ohne-Frauen auf den Decken nebenan. Ein ganz normaler Abend im Englischen Garten. Fast. Es ist „Knit Nite“, zumindest auf ein paar Decken vor dem Monopteros.

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Die selbstständige Kulturarbeiterin Linn Quante, 27, und Rosy Stegmann, 41, Webentwicklerin und Gründerin eines Online-Shops für Wolle, organisieren seit Anfang des Jahres die Knit Nite. Meistens kommen 20 bis 30 Frauen. Es sind Studentinnen, Hausfrauen, Physikerinnen, Ärztinnen und Programmiererinnen zwischen 20 und 50 Jahren. Ihnen allen gefällt die Idee „Just beer and knitting“, die auch für das Strickpicknick heute gilt. Wir haben außer Bier allerdings auch noch Saft und Brezn dabei. Das Nadelklappern wird übertönt von Kichern, Urlaubsgeschichten und vor allem Berichte über Wolleinkäufe, Nadelstärken und die Socken und Pullis, die gerade in Arbeit sind.

Überall wird gerade gestrickt, und zwar nicht allein zu Hause, sondern in Cafés wie dem Café Lotti in München, bei Etsy-Workshops und auf Ravelry, dem Stricker-Facebook, das auch viele Nicht-Stricker mittlerweile kennen. Für mich war Stricken bisher nichts, das man in Gesellschaft macht. Außer im Handarbeitsunterricht, den ich aber mit dem unangenehmen Gefühl verbinde, dass ich als einziges Mädchen in der Klasse immer nur eine Drei im Zeugnis hatte. Und das, obwohl meine Oma mir damals den Schal gestrickt hat.

Für die Knit Nites haben Linn und Rosy lange nach einem Ort gesucht, an dem man gemeinsam stricken kann. „Wir wollten kein Café oder Wohnzimmer, sondern einen coolen Ort, mit Bewegung, Kulturaustausch, Lesungen, Konzerten, Partys. Das gab es nicht, also haben wir selbst was organisiert“, sagt Linn. Die ersten Stricknächte haben im Art Babel stattgefunden, zuletzt trafen sich die Strickerinnen in einem Gemeinschaftsgarten.

„Ungefähr die Hälfte ist immer zum ersten Mal dabei“, erzählt Linn. Viele haben, so wie ich, seit der Schule nicht mehr gestrickt. Andere kommen immer wieder und kennen sich und ihre Projekte. „Manche sind richtige Strick-Cracks, die selbst Muster entwerfen“, sagt Rosy. Sie arbeitet an einer Mütze, Linn strickt seit der ersten Knit Nite an einem Schlauchschal aus Baumwollgarn, an dem sie auch nur bei den Treffen weiterarbeitet. Die anderen hier versuchen sich an Mützen, Pullis und Socken. Die Anfänger stricken Schals. Also auch für mich genau der richtige Schwierigkeitsgrad.

Meine Lehrerin hat viel Geduld. Linn macht zum vierten Mal vor, wie sie den Faden zwischen Ring- und kleinen Finger legt und eine Schlaufe um Zeigefinger und Daumen zieht. Ich brauche schon mehrere Anläufe, bis ich meine Finger so halte wie Linn. Am liebsten würde ich aufgeben. „Wir schummeln mal und ich mache die erste Schlaufe“, schlägt Linn vor. Die Maschen für die erste Reihe nimmt sie auch noch auf. Dann bin ich dran. Ab der zweiten Reihe kommt die zweite Nadel ins Spiel – und meine Erinnerung zurück. Automatisch wickle ich den Faden um den Zeigefinger und halte beide Nadeln. Linn macht vor, wie man die Masche durchsticht und den Faden holt. Daran kann ich mich noch erinnern. Ich stricke los, schon jetzt zufrieden – auch wenn der „Schal“ bisher allenfalls als Barbie-Accessoire durchginge.´

Linn hat schon vor fünf Jahren wieder mit dem Stricken angefangen, nachdem sie auf der Documenta Topflappen gesehen hatte, die sie nachmachen wollte. „Ich finde es spannender, mir zu überlegen, welchen Schal oder welche Mütze ich gerne hätte, und mir die Wolle dazu auszusuchen, als einfach in den Laden zu gehen“, sagt sie. Mir geht es genauso. Seit Jahren suche ich den perfekten Strickschal, in Dunkelgrau, vielleicht als Schlauchschal, vielleicht mit weißen Akzenten. Den könnte ich mir eigentlich auch selbst stricken.

Für September suchen Linn und Rosy eine neue Location. Bis dahin werde ich an meinem Schal weiterwerkeln. Hoffentlich schaffe ich dann mehr als nur rechte Maschen. Für den Moment bin ich aber stolz auf meinen Vier-Zentimeter-Schal, auch wenn mir die eine oder andere Masche heruntergefallen ist. Rosy findet das nicht schlimm: „Das Unregelmäßige hat ja auch was Natürliches. Und du hast die Technik gleich verstanden. Ich würde dir eine Zwei geben.“ Zur Not kann ihn ja Oma fertig stricken. Jetzt, wo das mit der Note geklärt ist.

Text: kathrin-hollmer - Foto: o. H.

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