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Wenn diese Woche die neue EP der Münchner Band Claire erscheint, könnte es sein, dass in einem kleinen litauischen Städtchen jemand seinen Laptop öffnet, der schon lange auf diesen Moment gewartet hat. Vielleicht ist er sogar der Erste, der auf „Play“ klickt, wenn die Band die letzten Kapitel ihres dazugehörigen Kurzfilms veröffentlicht – schließlich ist er darin die Hauptperson. Wahrscheinlich ist er gespannt, wie die Band die Geschichte erzählt, die er mit einem Anruf im Dezember 2014 doch noch ins Gute drehte. Seine Hilfe machte aus einem Albtraum für die Band schließlich einen Krimi mit Traumende. Wie das alles genau ablief, weiß nur er: der mysteriöse Anrufer aus der Kleinstadt Raseiniai in Litauen, dessen Identität immer noch ein Rätsel ist.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Ruhig bleiben und den Albtraum in Kunst verwandeln: Claire haben den Diebstahl ihres Equipments in einem Film und einer EP verarbeitet.
 
Die Albtraumgeschichte beginnt im September 2014. Claire – die Medien nennen sie damals seit einer Weile die „Münchner Band der Stunde“ – sind für die ersten eigenen UK-Shows in London. Am Tag des ersten Gigs klingelt das Telefon. Die Tourmanagerin ist dran. Sie könne den Sprinter nicht finden, den sie gerade holen wollte. Die Band hatte ihn in der Nacht in einer Wohngegend geparkt, um 4 Uhr früh, nach langer Fahrt von München. Nach einer Weile wird klar: Die Managerin hat sich nicht in der Straße geirrt. Der Transporter hat nicht im Parkverbot gestanden, also hat ihn auch niemand abgeschleppt. Nein, jemand hat ihn geklaut. Samt Inhalt – dem gesamten Equipment der Band. „In dem Moment ist uns allen richtig schlecht geworden“, erinnert sich Sängerin Josie. Aus der Vorfreude auf die erste Show der Tour wird Verzweiflung. Das Konzert am Abend wird abgesagt. Aber das ist das kleinste Problem.
 
Einer Band auf einen Schlag all ihr Equipment zu klauen, das ist in etwa so, als würde man einem Fußballprofi die Füße abhacken. Musiker tüfteln jahrelang an ihrem Sound, an einem Klang, der sie unverwechselbar macht. Jede Gitarre klingt ein bisschen anders, jeder Verstärker und jedes zwischengeschaltete Effektgerät verändern den Klang. Manche Songs lassen sich überhaupt nur mit einem bestimmten Set-Up live umsetzen. Sich einfach eine Klampfe und ein Schlagzeug zu leihen und loszuschrammeln, ist ab einem bestimmten Niveau unmöglich. Das Problem verstärkt sich noch, wenn eine Band viele Drum-Maschinen und Synthesizer einsetzt, und wie Claire ihre Musik auf einem elektronischen Soundgerüst aufbaut. Ohne das eigene Equipment fällt dieses Gerüst zusammen. „Das ist ein gewachsenes System, in dem viel Zeit und Arbeit stecken. Man bastelt da ja immer weiter dran rum“, sagt Keyboarder Messel. „Das genau so wieder nachzubauen, ist quasi unmöglich.“ Und teuer. Das Equipment einer fünfköpfigen Band kostet schnell mehr als ein Mittelklassewagen.

Teufelskreis: ohne Auftritte kein Geld, ohne Geld kein neues Equipment, ohne Equipment keine Auftritte.

Die Londoner Polizei macht den Musikern keine Hoffnungen. Autodiebstahl sei in der Gegend ein Klassiker, auch wenn sie aussehe wie ein gediegener Vorort. Drei Tage später folgt die Gewissheit, dass der Transporter längst ganz woanders ist: Die Polizei entdeckt ihn auf Bildern, die eine Überwachungskamera am Morgen der Tat im Süden Londons aufgezeichnet hat. Die Straße führt in Richtung Küste.
 
Wieder zu Hause beginnt für die Band eine harte Zeit. Sie haben keine Instrumente, können keine Konzerte spielen. In Zeiten sinkender Erlöse durch CD-Verkäufe sind die aber die Haupteinnahmequelle. So geht der Teufelskreis weiter: ohne Auftritte kein Geld, ohne Geld kein neues Equipment, ohne Equipment keine Auftritte.
 
Auch die Kreativität kommt ins Stocken. Claire können nicht richtig proben, neue Ideen nicht richtig ausarbeiten, nicht an einem zweiten Album basteln. „Der Diebstahl hat uns mindestens ein halbes Jahr zurückgeworfen“, schätzt Josie. Vielleicht kann man also wirklich sagen: Was der anonyme Anrufer aus dem litauischen Provinzkaff Raseiniai in Gang setzte, war die Rettung von Claire.
 
Es ist der 25. November 2014. Bei der Booking-Agentur der Band klingelt morgens das Telefon, eine Mitarbeiterin nimmt ab. Sie versteht nicht, was der Anrufer will, er spricht nur gebrochenes Englisch. Aber die paar Begriffe, die sie aufschnappen kann, reichen: Claire – Instruments – Lithuania.

„Wir dachten zuerst, es verarscht uns jemand.“

Claire besorgen sich einen Dolmetscher und schicken auf Litauisch eine SMS an die Prepaid-Handynummer, die auf dem Display der Booking-Agentur erschienen war. Ob der Anrufer die Infos noch mal per Mail schicken könne? Und tatsächlich: Am Abend kommt eine Nachricht an. Darin ist der Ort beschrieben, an dem die Instrumente der Band angeblich lagern. Dazu der Hinweis, sich an die örtliche Polizei zu wenden, die das Hehlerversteck hochnehmen könne.
 
„Wir dachten zuerst, es verarscht uns jemand“, sagt Josie. „Wir haben echt eine Weile gebraucht, bis wir dran geglaubt haben, dass uns da eventuell ein wertvoller Hinweis erreicht hat.“

>>>Die litauische Polizei findet den angegebenen Ort, einen Nachtklub, und stürmt das Versteck.<<<


Aber so war es. Die litauische Polizei findet den angegebenen Ort, einen Nachtklub. Sie stürmt das Versteck und stellt so gut wie alles sicher, was der Band gestohlen worden war. „Wir haben denen eine Liste mit allen geklauten Gegenständen geschickt. Nach ein paar Wochen bekamen wir die Liste zurück: Hinter fast allem stand der Vermerk ‚Found‘. Sogar hinter dem schwarzen Gaffa-Tape.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Die Polizei entdeckt den gestohlenen Sprinter auf Bildern einer Überwachungskamera. Die Straße führt in Richtung Küste.
 
Die Jungs der Band fahren selbst nach Litauen, um ihre Sachen auf dem örtlichen Polizeirevier abzuholen. Da setzt das Kopfkino ein. Sie wissen: Hinter den Kleinstadt-Fassaden passieren obskure Dinge, leben Verbrecher, die womöglich noch Schlimmeres tun als Transporter zu klauen. Ihre Fantasie verändert ihren Blick, sagt Messel: „Wir fragten uns bei jedem Menschen, den wir auf der Straße sahen: Ist das einer der Diebe? Einer der Typen, die unsere Sachen verticken wollten? Oder ist das der anonyme Anrufer?“
 
Aus diesem seltsamen Gefühl sind die neue EP und der Film entstanden. Aus der Unwissenheit, wer dieser Mensch ist, der ihnen geholfen hat. Genauso, wie man sich als Bestohlener ausmalt, wer einen beklaut hat, grübelte die Band, warum der Anrufer ihnen half, ihr Eigentum zurückzubekommen. Geld steckte offenbar nicht dahinter. Also wurden die Theorien abstruser. Verwandelten sich in drehbuchartige Schnipsel: Wollte er den Hehlern schaden? Sich rächen?
 
https://www.youtube.com/watch?list=PLDGM4yrTp74D4R1I3mV1zqTE2Uz7dF-k-&v=87oGJEcHaqs

„Wir haben relativ bald beschlossen, dass wir diese Geschichte in Musik und in einem Film verarbeiten wollen“, sagt Messel. „Um die Ereignisse in etwas Positives umzumünzen und um filmisch mal mehr zu machen als nur ein Musikvideo. Dann wurde schnell klar: Der Clou an der Sache ist: Wer ist dieser Typ? Warum hat er uns geholfen?“

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Janis, ein junger Autoschrauber, Typ Schmalbrust in Unterhemd mit Goldkettchen.

Das erste Kapitel des Films, seit Montag online, lässt schon erahnen, in welche Richtung Claire ihre Gedanken laufen ließen. Im Mittelpunkt steht Janis, ein junger Autoschrauber, Typ Schmalbrust in Unterhemd mit Goldkettchen. Die Geschichte wird sich, so viel ist nach den acht Minuten klar, um eine Autowerkstatt drehen, in der geklaute Wagen vertickt werden und in der Janis offensichtlich der Underdog ist. Er erledigt Botengänge mit Diebesgut und ist verliebt in eine Tänzerin in einem Kleinstadt-Stripclub. „This is what we are made of“, singt Josie, während Janis mit geklauter Hehlerware übers Land fährt. Die Musik sagt: Dieser Junge ist ein guter Typ, der in einer Scheißwelt lebt.
 
Überhaupt, die Musik. Klingt irgendwie anders als die auf dem ersten Claire-Album. Stellenweise zaghafter. Repetitiver, flächiger. Die Songs bauen sich langsamer auf und sind weniger auf den Refrain aus, der im Ohr bleibt. Als wollten sie sich nicht zu sehr in den Vordergrund drängen. Es könnte sein, dass manche Claire-Fans ein bisschen enttäuscht sind, wenn sie die EP ohne den Film hören. Alleine ist sie nicht so eingängig, wie man es gewohnt ist. „Wir haben die Musik parallel zum Drehbuch geschrieben“, sagt Josie. „Letzten Endes ist sie ein Soundtrack. Ich bin sehr gespannt, wie die Leute reagieren.“
 
Vielleicht gibt es noch einen Grund für die Soundveränderung: Die Synthie-Sammlung der Band ist gewachsen, weil sie in den Monaten ohne ihr Equipment schon teilweise Ersatz gekauft hatten. Könnte also sein, dass sie bei der nächsten Tour auf zwei Transporter aufpassen müssen.

Text: christian-helten - Fotos: Christoph Schaller, Screenshot

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