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Herdentrieb

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Sobald man das Laufen lernt, wird man zum Wege-Optimierer. Das Gehen im öffentlichen Raum, ach was, überhaupt das Gehen durchs Leben, verlangt nach selbstgefundenen Pfaden. Wie soll man es auch aushalten, das dauernde Warten und Sich-Vorschriften-Beugen? Die gegebene Zeit für alles ist ja eh schon viel zu kurz. Warum also jede Treppenstufe nehmen, wenn die Beinlänge auch für jede zweite reicht? Wieso in der Wirtschaft alle aufstehen lassen, wenn man auch unterm Tisch hindurch klettern kann? Wieso erst bis zum Zebrastreifen gehen, ehe man die Straße überquert? Die ungeschriebene Regel im Leben des mobilen Individuums lautet: Kürze alles ab, was du nur irgendwie abkürzen kannst. Und das Ergebnis dieses Imperativs heißt: Trampelpfad.
 
Achtet man einmal bewusst auf die Ausprägungen der Trampelpfade einer Stadt, wird einem bewusst, wie nah am Irren sich der Abkürzungswahn des Menschen bewegen kann. Es gibt Ecken, da ist der Trampelpfad die reine Ironie. Nur Zentimeter vor der ohnehin nahenden Wegmündung führt eine kleine Schneise durch das Grün. Man spart sich auf ihr Sekunden. Wenn überhaupt. Beinahe wie Land-Art sehen auch die Abkürzung-der-Abkürzung-Strukturen aus, jene sich wie Schichten eines Regenbogen immer wieder nebeneinander verkürzende Pfade, bei denen es den Trampelnden eher darum zu gehen scheint, sich in ihrer Findigkeit bis ins Absurde zu übertreffen, als tatsächlich den einen idealen Weg ausfindig zu machen. Auch die „Variante der zweiten Spur“, ist in dieser Hinsicht sehr sehenswert. Bei ihr schmiegt sich der Trampelpfad wie ein Mini-Bürgersteig neben den eigentlichen Bürgersteig und ist dabei in keiner Hinsicht mehr eine Abkürzung, sondern vielmehr der trotzige Alternativweg für jene, die offenbar einfach nur gern auf einem anderen Untergrund laufen wollen.



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In vielen Fällen gehen die Menschen allerdings auch eine durchaus gescheite Abkürzung. Da muss man sich nur mal den Klassiker der Münchner Trampelpfade angucken: den am Königsplatz. Er ist so lang und so großzügig eingelatscht, dass er bald mit den von der Stadt angelegten Wegen mithalten kann.
 
Dass Trampelpfade auch der sinnvollere Weg sein können, macht man sich andernorts längst zunutze. In Finnland gehen Stadtplaner und Landschaftsarchitekten gern nach heftigen Schneefällen in Stadtparks oder auf andere öffentliche Plätze, wenn sie etwas über die Routen der Menschen lernen wollen. Die angelegten Wege sind dann eingeschneit, übrig bleiben nur die Spuren, die sich die Menschen selbst zurechttreten. An der University of Oregon in den USA hat es der Architekt Christopher Alexander bereits in den Siebzigerjahren mit dem sogenannten Oregon Experiment zu Bekanntheit gebracht: Als er den Campus neu gestaltete, legte er nicht von vornherein Fußwege an, sondern säte lediglich Gras und ließ natürliche Trampelpfade entstehen, die erst später gefestigt und zu den offiziellen Wegen gemacht wurden. Heute arbeiten viele Stadtplaner so.

Kennt die Herde also den besten Weg? Nicht nur. Ein etwas krummer Fortsatz schräg hoch Richtung Filmhochschule entlarvt auch den Königsplatz-Trampelpfad als Anarcho. Wer ihn auf einem Luftbild betrachtet, erkennt außerdem, dass er hier noch gar nicht zu Ende ist. Er drängt weiter Richtung Unis und Pinakotheken. Möglicherweise spricht aus ihm auch eine größere Sehnsucht nach dem Englischen Garten. Irgendeine Wahrheit jedenfalls scheint in dieser Route zu liegen, auch wenn sie verquer erscheint. Denn sie findet immer eine Fortführung – erst über die Arcisstraße und dann quer durch die Fußballwiese vor der Alten Pinakothek und weiter über die Barer Straße, am Reich der Kristalle vorbei bis rüber zum Brandhorst. Dort sinkt irgendwann – aus Mangel an Grün – die Trampelpfadquote bis zum Eingang des Englischen Gartens.
 
Es muss also noch etwas anderes sein als Effizienz, das einen diese Wege nehmen lässt. Schon eher eine Art innerer Juckreiz, eine Sehnsucht nach der kleinen Anarchie des Alltags auf dem Weg irgendwohin, wo man vielleicht schon wieder gar nicht hin will. Oder auch einfach nur der unbewusste Drang nach einem völlig grundlosen Aktivsein. Vielleicht sind ja Trampelpfade auch nur die Graphen der alltäglichen Nervosität des Menschen im Stadtbild? Wie oft wechselt man schließlich die Straßenseite, ohne darüber nachzudenken, wie oft schlägt man völlig willkürliche Haken, hüpft über eine niedrige Mauer, schneidet den Weg, ohne es zu reflektieren? Es ist ja auch fad, dauernd auf dem gleichen Weg zum Ziel zu gehen. Wie schön also, sich dauernd individuelle Routen zu schaffen. Wie schön, einen eigenen Geheimweg zu beschreiten. Vielleicht hat sich einem auch der Moment ganz tief ins Unterbewusstsein gebrannt, in dem einem als Kind jemand zum ersten Mal sagte: „Ich kenn da einen Schleichweg.“ Man will noch fragen, was das ist, so ein Schleichweg, aber allein weil „schleichen“ vorkommt, was unten drunter Abenteuer, Mutprobe und Spiele verspricht, will man sofort ins Schleichwegteam und lieber die Klappe halten, bevor man durch blöde Fragen noch das Geheimnis ruiniert.
 
Hinzu kommt, dass der moderne Mensch ja tendenziell immer auch ein bisschen wütend ist. Und wenn er das als anständiger Bürger schon nicht im Großen zeigen kann, muss er es eben im Kleinen rauslassen. Dann schmeißt er den Müll in den Gepäckträger parkender Fahrräder („Wenn hier keiner ’nen Mülleimer hinstellt, was kann ich dafür?!“) oder latscht quer über eine Wiese („Wenn hier keiner ’nen Weg hinmacht, was kann ich dafür?!“). Und dann gefällt er sich natürlich auch noch als Wolf im Revier. Auch dieses Bedürfnis deckt der Trampelpfad prima ab. Er bestätigt einen nämlich immer wieder in dem Wissen, dass das hier die vertraute Umgebung ist, in der man sich auskennt und sich nichts sagen lässt. Und weil Trampelpfade all diese Bedürfnisse auf einmal befriedigen, will sie niemand missen, weder der penibelste Stadtplaner, noch der fanatischste Spaßverbieter oder Graffitiübermaler. Im Englischen heißen Trampelpfade übrigens „Desire Paths“. Wenn das mal nicht sowieso schon alles sagt.

Text: mercedes-lauenstein - Fotos: juri-gottschall

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