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Der unbekannte Star

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Manchmal braucht das Glück länger, bis es einen findet. Zu Vicus kam es nach fast einem Jahrzehnt in einem weißen BMW Cabriolet. Rina Broomberg stieg aus, gab Vicus die Hand – und seinem Leben eine Wendung.

Im ganzen Land hatte Rina Broomberg ihn gesucht. Vicus Visser, den schwarzen Teenager aus einer südafrikanischen Township. Sie kannte nur seine Stimme und sein Aussehen als Kind, aus einem wackeligen, verpixelten Handyvideo, entstanden vor elf Jahren. Darin ist Vicus zu sehen, wie er als Junge mit einer viel zu großen Gitarre auf einem Ledersofa All 4 One covert. Das Video war der Auslöser einer Kette von Ereignissen, die diesen Sonntag ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat: Vicus wurde eingeladen, in den USA aufzutreten, auf einer großen Bühne im Kennedy Center in Washington DC.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Vicus Visser

Die Geschichte beginnt 2002, an einem Mittag nach der Schule, Viccus ist zehn Jahre alt. Das Nachbarmädchen kam vorbei, sagte, Vicus solle doch noch einmal singen. Als Gegenleistung werde sie ihm etwas kochen. Und Vicus sang noch einmal. Sie war eine der ersten im Township, die damals ein Videohandy hatte. Damit nahm sie Vicus auf.

Man sieht ihn auf einem Ledersofa sitzen. Er hält eine Gitarre im Arm, die größer ist als sein Oberkörper. Er fragt: „Nimmst du das auf?“ Sie: „Ja.“ Dann beginnt er, „These Arms“ von All 4 One zu singen und mit der rechten Hand den Rhythmus auf dem Holz der Gitarre zu klopfen.

http://www.youtube.com/watch?v=n3xcis9JTqA

Eigentlich hatte das Mädchen versprochen, den Clip für sich zu behalten. Am nächsten Tag zeigte sie ihn dann doch ihren Freundinnen. In der Schule lachten sie, Vicus war sauer. Nach ein paar Tagen war die Sache aber vergessen. All das war 2002.

Dann macht die Geschichte einen Sprung. 2009 tauchte der Clip bei Youtube auf. Irgendjemand muss ihn Jahre nach seinem Entstehen dort hochgeladen haben. Wer das war und warum er es tat, weiß niemand. Die Nachbarin sagt, sie sei es nicht gewesen. Über soziale Medien wurde der Clip verbreitet, über 50 000 Mal angeklickt. Auch die Verantwortlichen bei den Plattenfirmen in Übersee hörten den Jungen mit der klaren Stimme singen. Einer Stimme, die die eines nächsten Michael Jackson sein könnte.

Für die Plattenfirmen sind die Youtube-Talente attraktiv, weil sie bereits eine Fangemeinde haben. Weil eine besondere Verbindung zu ihren Hörern besteht, weil sie nicht aus dem Nichts kommen. Und weil ihre Persönlichkeit und ihr Talent in Reinheit zu sehen sind – ohne Alkohol oder die aufgeheizte Stimmung bei einem Konzert. In The Music Void, einem Fachmagazin für die Musikindustrie, beschreibt ein Autor die moderne Suche nach Talenten: Statt in Hinterzimmern Bands zuzuhören, schauen die Talent-Scouts heute auf Facebook-Likes, Zugriffszahlen, Twitter-Trends. „Auf den ersten Blick scheint es emotionslos, nur auf nackte Online-Zahlen zu schauen – aber weil der ganze Musikkonsum ins Internet wandert, entspricht das einfach dem Beobachten der Masse.“

Vicus begeisterte die Masse auf Youtube, so viel stand fest. Aber es gab ein Problem: Niemand wusste, wer er ist. Die Firmen schickten Talent-Scouts um den Globus, es begann so etwas wie eine weltweite Fahndung. Gesucht: ein schwarzer Junge mit einer Gitarre, 10 oder 11 Jahre alt. Mehr war nicht bekannt. Sie recherchierten und suchten und landeten irgendwann in Südafrika. Sie baten den Radiomoderator einer Morningshow, das Foto des Jungen zu twittern. Ein Follower gab den entscheidenden Tipp.

Drei Jahre hat die Suche gedauert. 2011 schließlich hat Rina Broomberg, Vicus’ heutige Managerin und Mentorin, den Jungen aufgespürt - in Heidedal, einer Township nahe der Stadt Bloemfontein zwischen Johannesburg und Kapstadt.

„Hätten sie gewusst, dass ich schon 17 war, als das Video auftauchte, hätten sie mich vielleicht schneller gefunden“, sagt er. Vicus Visser, der Junge aus dem Video, sitzt im Schatten eines Hinterhofs in Johannesburg in Südafrika. Hinter der Mauer und den Bäumen rauscht der Verkehr. Er spricht gedämpft, hält die Hände beim Reden fast schüchtern am Körper. Wenn er vor einer Tür steht, lässt er anderen den Vortritt. Fast übertrieben höflich, aber nicht aufdringlich. Seine Mentorin und Managerin nennt er „Auntie“, auf Afrikaans ein liebevoller Ausdruck für „Tante“.

Vicus ist nicht groß, hat kakaobraune Haut und eine etwas größere Zahnlücke, die man beim Singen sieht. Er ist inzwischen 19 und wohnt mit seinem Bruder in Sandton, einem der besten Viertel der Millionen-Metropole. An den Straßenrändern sieht man keine Verkäufer wie sonst in Afrika, nur Cabriolets und Limousinen. Der Mandela Square mit einer übergroßen Heldenstatue ist nicht weit von hier, auch die Einkaufspassagen von Sandton City nicht. Vicus kann dort inzwischen die Reihenfolge der Designer-Läden aufzählen. Wenn Madonna oder die Beckhams in Johannesburg sind, trifft man sie hier. Als Kind sei er in Gedanken schon in dieser Welt gewesen, sagt Vicus. Jetzt ist sie real. Er trinkt Cola, trägt ein graues Shirt von Levi’s und Sneaker von Adidas. „Jedes Kind aus der Township träumt davon“, sagt Vicus.

In keinem Land dieser Welt sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich so groß wie in Südafrika. Wer arm ist, bleibt arm, über Generationen hinweg. Normalerweise. Vicus Geschichte aber macht Hoffnung: Sie erzählt von der Chance des Lebens, vom Aufstieg aus dem Armenviertel. Von Glück, aber auch vom Lohn harter Arbeit und von Talent. Als das Video 2002 aufgenommen wurde, hatten sich seine Eltern gerade getrennt. Der Vater ist ausgezogen, Vicus hat vier Geschwister von unterschiedlichen Elternteilen.

Wo er herkommt, in Heidedal, versinken die Leute meist im Sumpf aus Drogen, Alkohol, Aids und Gewalt. Die Hütten sind einfach, meist eingeschossig, die Straßen verlaufen dazwischen als festgefahrene Spuren im Sand. Die Polizeistatistik für das Viertel, das so groß ist wie ein kleineres Dorf, verzeichnete im vergangenen Jahr sechs Morde, 410 Straßenüberfälle und 42 Vergewaltigungen. Ein Einkaufszentrum gibt es erst seit kurzem. Als Vicus jünger war, gab es nichts. Die Jugendlichen haben deshalb Wettbewerbe organisiert: Wer am besten kickt oder boxt oder singt. Sie haben Tische zu einer Bühne zusammengeschoben oder einen Kreis gebildet. Danach wurde abgestimmt. „Mit meinem Bruder Vincent habe ich damals alle Gesangswettbewerbe in der Community gewonnen“, erzählt Vicus. Ihre Stimmen harmonierten gut zusammen, sagt er. „Gegen uns hatte keiner eine Chance.“

Es sind nicht die Kinder reicher Eltern, die zu Stars werden. Brasilien hat deshalb so gute Fußballer, weil die Kinder in den Straßen jahrelang nichts anderes machen als zu kicken. Weil es keine anderen Beschäftigungen gibt. Pélé, Ronaldo und Ronaldinho sind auf der Straße groß geworden. Vicus Visser hat in Südafrika auf der Straße gesungen. Seine ganze Kindheit. Das hat seine Stimme reifen lassen. Es sei nicht seine Geschichte, die ihn zum Star machen könne, sondern sein Talent, sagt Managerin und Mentorin Rina Broomberg. „Er hatte nicht eine Minute Stimmtraining, trifft die Töne aber klar und mit Gefühl.“ Sie managt eigentlich den Radiostar, dessen Aufruf zum Fund von Vicus führte. Jetzt unterstützt sie den Jungen, vermittelt und verhandelt mit Plattenfirmen und Tonstudios. Und das ist viel Arbeit. Die großen Studios, Universal Music, Sony, EMI, alle hätten sich bei ihr gemeldet. „Wir haben sogar fertige Verträge per Post geschickt bekommen“, sagt Broomberg. Unterschrieben hat Vicus aber noch keinen davon. Viele der Firmen seien als Retter und Helfer des Jungen aufgetreten, um das Bild entstehen zu lassen, sie hätten ihn aus dem Slum gerettet, sagt Broomberg. Gegen diese Form der Bemutterung und Überheblichkeit wollten sie sich wehren.

Vicus hat es nicht eilig. Die vergangenen zwei Jahre seit seiner Entdeckung hat er die Musik ruhen lassen, er hat die Highschool abgeschlossen. Erst jetzt ist Zeit für die Musik. Am Sonntagabend hatte Vicus gemeinsam mit seinem Bruder Vincent seinen ersten Auftritt: eine Stunde bei einem Tribute-Konzert für Nelson Mandela und Martin Luther King in Washington. Er repräsentierte Südafrika. Eingeladen hatte ihn die südafrikanische Botschaft in den USA. Eine große Ehre sei das, sagt Vicus. „Aber Angst habe ich keine.“ Er stand vorher zwar noch nie alleine auf einer großen Bühne. Sein Publikum waren bisher vor allem die anderen Bewohner im Armenviertel. „Aber wer in der Township aufgewachsen ist“, sagt Vicus, „der lernt, vor nichts mehr Angst zu haben.“

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