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Einsame Spitze

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Da ist sie, die alte Welt! Er sieht sie im Vorbeigehen auf den Flachbildschirmen, während sein Tourmanager ihn eilig durch das riesige Loftbüro in Manhattan lotst: das Spiel Deutschland gegen Portugal auf ESPN. Der Kommentator analysiert gerade den Hattrick von Thomas "Muller". "Unglaublich!", ruft Tijs Verwest in seinem gemeißelten niederländischen Akzent und reibt sich die riesigen Hände, "das Finale wird Holland - Deutschland, jede Wette!" Sein amerikanischer Tourmanager, halb so alt wie Verwest, lächelt wortlos, schiebt ihn in den Konferenzraum und schließt die Tür hinter ihm.

Tijs Verwest, 45, DJ und Multimillionär, ist jetzt wieder in der neuen Welt. Er selbst sagt das so, später am Tag im Aufzug eines anderen Hochhauses. Alte Welt, neue Welt, in diesen Worten schwingt Eroberung mit, auch Sturheit. Verwest findet, das passt. Die alte Welt, das ist Europa, wo er groß wurde und heute künstlerisch so gut wie irrelevant ist. Die neue Welt: Das ist hier, Nordamerika, wo zwar vielleicht kein Mensch Thomas "Muller" kennt, wo man aber bereit ist, ihn, Tijs Verwest, Künstlername Tiësto, wie einen Superstar zu behandeln.

Verwest ist zu Besuch im amerikanischen Hauptquartier von Spotify. 20 Minuten Kennenlernen und Fotoshooting stehen im Kalender, dann muss er weiter, sechs Interviews warten noch auf ihn und er hat jetzt schon eine Stunde Verspätung. Es ist der Tag vor dem Tag, von dem Verwest sagt, es sei der wichtigste seiner Karriere. Sein neues Album erscheint, es soll ihm ein neues Gebiet erschließen: die Welt des Mainstream-Pop. Verwest trägt Turnschuhe von Yves Saint Laurent und ein blau-weißes Ringelshirt, sein Kopf sitzt auf massiven Schultern, er sieht aus wie sein eigener Bodyguard. Und er ist aufgeregt. Er setzt sich an den Konferenztisch und zippelt mit der linken Hand unter der Tischplatte an der Tasche seiner weißen Jeans.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Tijs Verwest, Künstlername Tiësto, ist der bestverdienende DJ der Welt.

Auf dem Tisch stehen Macbooks und Plastikbecher mit Frappuccino. Drum herum sitzen neun Leute Mitte 20, mit guten Frisuren und sehr sauberen Laufschuhen. Die Zukunft des Musikgeschäfts. Der Streaming-Dienst Spotify ist längst der wichtigste Vertriebsweg für Künstler wie Tiësto, deren Fans größtenteils zu jung sind, um noch CD-Spieler zu besitzen. Geld verdienen Künstler auf Spotify nicht mit verkauften Alben, sondern pro abgespieltem Song. Seit einer Stunde müsste Verwest beim nächsten Termin sein, unten auf der Straße wartet der Wagen mit laufendem Motor, aber jetzt nimmt er sich Zeit. Er hat Fragen.

"Wenn ich einen Song zu einer Playlist hinzufüge, werden meine Follower dann automatisch benachrichtigt?"
"Kann ich neue Remixes selbst hochladen?"
"Wie bekomme ich noch mehr Follower?"
Er lauscht mit dem Zeigefinger am Kinn.

Bevor er reinkam, haben die Spotify-Leute das Lineup des "Made in America"-Festivals besprochen. Jay-Z hat es gegründet, Tiësto steht dieses Jahr auf dem Plakat ganz oben. Neben Kanye West und den Kings of Leon. Tiësto gilt als der erfolgreichste DJ der Welt. Er hat bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Athen gespielt. Mit einem zweistündigen Auftritt verdient er im Schnitt 250 000 Dollar, mal mehr (wenn ein amerikanisches Unternehmen das Konzert sponsert), mal weniger (wenn er in Europa spielt). Vor zwei Wochen trat er als Headliner eines Festivals in der Frankfurter Commerzbank-Arena vor 30 000 Zuschauern auf. In den USA füllt er solche Stadien alleine. Das US-Millionärsmagazin Forbes führt seit einigen Jahren eine Liste der bestverdienenden DJs der Welt. Seit es die Liste gibt, steht Tiësto auf Platz eins oder zwei. 2013 soll er 32 Millionen Dollar verdient haben. Ungefähr zehn Millionen mehr als Cristiano Ronaldo bei Real Madrid.

In Amerika und Asien ist er ein Star - aber in Europa, der Heimat des Techno, belächeln sie ihn.


Trotzdem ist Verwest in einer Situation, die ihm nicht ganz gefällt: In der neuen Welt, in Nord- und Südamerika, in Asien, in Australien, feiern die Massen ihn. Aber in der alten Welt? In Europa, besonders in den Techno-Ländern Deutschland, England, Holland? Da belächeln sie ihn. Für den europäischen Zeitgeist ist seine Musik zu glatt, zu kommerziell. Zu weit von der Frontlinie, an der die Produzenten diesseits des Atlantiks sich gerade entlangexperimentieren. Tiësto markiert einen Spalt zwischen der Popindustrie in Europa und im Rest der Welt.

Norbert Plantinga steht auf einer grün beleuchteten Galerie und lehnt sich ans Geländer. Er blickt auf einen Saal voller freudig schwitzender Menschen, die in großen Schlucken das erste Bier des Abends trinken. Es ist der Tag nach Verwests Besuch bei Spotify. Gleich startet das Release-Konzert vor 3000 ausgewählten Fans im Terminal 5, einen Block vom Hudson River entfernt. Der Limonadenhersteller 7 Up lässt den Auftritt filmen, er hat ihn mit 2,5 Millionen Dollar unterstützt: Ein Dutzend Gastsänger vom neuen Album wurden eingeflogen. Noch nie musste sich Verwest auf der Bühne nach so vielen Menschen richten. Er ist nervös und sitzt in der Umkleide, nicht mal sein Manager darf zu ihm.

"Es ist schon verrückt", sagt Plantinga und schüttelt lächelnd den Kopf mit den schulterlangen Haaren. "Jazz, Blues, Rock'n'Roll, Grunge und Hip Hop kamen aus Amerika nach Europa - jetzt geht es genau umgekehrt." Plantinga ist Direktor des niederländischen Zweigs von Universal, des größten Plattenlabels der Welt. Er kennt Verwest seit mehr als 15 Jahren, er hat seinen Durchbruch begleitet und mit geplant.

In den frühen Neunzigerjahren beginnt Verwest, Trance-Musik zu produzieren, den handelsüblichen Sound der Raves und Straßenumzüge in Mitteleuropa, der Plastikhosen und Plateauschuhe, der Reflektorwesten, Trillerpfeifen und Gasmasken. Verwest wird bekannt, er ist gut. Aber als die Neunziger vorbei sind und damit auch die Zeit der Plastikhosen und Plateauschuhe, will kaum noch jemand Trance hören. Er wird zum Phänomen der Vorstädte und Hallendiscos. Die alten Stars satteln um auf neuere Elektro-Trends: Deep House, Minimal House, der "Sound of Berlin". Und Verwest? Spielt seinen Trance dort, wo er noch neu und gefragt ist: außerhalb Europas, in der neuen Welt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Vor diesem Konzert war Tiësto nervös: Erstmals musste er seine Show perfekt nach den Auftritten von Gastsängern choreographieren.

Auf der Galerie, ein paar Schritte von Plantinga entfernt, stehen ein Mann und eine Frau um die 40, er im Polohemd, sie im knöchellangen Sommerkleid. Fans aus der alten Welt, aus Verwests Heimatstadt Breda. Sie haben im Radio den Flug und die Tickets zum Konzert gewonnen - jetzt warten sie auf das Meet and Greet mit ihrem Star. Die Frau hat ihm ein Tütchen Stroopkoeken aus der Heimat mitgebracht, Krokant-Kekse. Der Mann hat Verwest eine CD gebrannt, ein selbst gemachtes Medley aller Songs vom letzten Tiësto-Album. Früher, sagt der Mann, hätten sie ihn dreimal im Jahr live gesehen. In den Hallen rund um die holländischen Städte, auf Ibiza. "Heute kommt er ja kaum noch."

Die ganz große Karriere von Tiësto verläuft parallel zu der Karriere von drei Buchstaben: EDM. Es ist die Abkürzung für Electronic Dance Music, eine amerikanische Erfindung, die auf dem sehr amerikanischen Gedanken beruht, dass sich Dinge besser verkaufen, wenn sie ein griffiges Etikett tragen. Als EDM bezeichnen sie in den USA neuerdings alles, was elektronisch produziert und tanzbar ist, von Techno bis Dubstep, was für europäische Elektro-Kenner ungefähr so sinnvoll klingt wie ein Sammelbegriff für alle Musikstile, in denen ein Schlagzeug vorkommt. Aber das Etikett funktioniert. Viele sagen, EDM habe Hip Hop abgelöst und Rock gleich dazu. Der Chef der weltgrößten Konzertagentur Live Nation erklärte der New York Times EDM einmal so: "Wenn du jetzt gerade zwischen 15 und 25 bist, ist das dein Rock'n'Roll."

Für seine Auftritte braucht er keine Instrumente. Vier SD-Speicherkarten reichen.


Es ist eine Art Re-Import der Clubmusik, die in den Siebzigern von Chicago aus nach Europa gelangte. Dort wurde sie dreißig Jahre durchgekaut und kommt nun in ihrer bekömmlichsten und kommerziellsten Form zurück. Die großen Köpfe der EDM sind Europäer: der Franzose David Guetta, der Schwede Avicii, der Deutsche Paul van Dyk, der Niederländer Afrojack. Und über allen schwebt Tiësto, der vielleicht deshalb als der authentischste gilt, weil er sich am allerwenigsten Gedanken darüber macht, was den sogenannten Zeitgeist in Europa interessiert.

Die Klimaanlage dampft in den Innenraum des schwarzen Lincoln Navigator, er schiebt sich vom Spotify-Büro aus durch den Montagsverkehr Richtung Downtown. Noch vier Interviews. Tijs Verwest nimmt einen Schluck Wasser aus einer winzigen Plastikflasche. "Gute Gegend", sagt er. Hier ums Eck hat er sich ein Apartment gekauft. Mehr als ein Jahr ist das her, aber der Esstisch und das maßgeschreinerte Bett fehlen immer noch. Immerhin, einen Andy Warhol von 1967 hat er sich inzwischen hingehängt, erzählt er. "Marilyn", er mag schlichte Bilder, klare Linien.

Übermorgen treffe er sich mit einem Typen, "der alles über Kunst weiß", und werde ein paar Galerien besuchen. Aber was soll er sagen, er verbringt 300 Nächte pro Jahr im Hotel, seit 15 Jahren geht das so. Vor ein paar Jahren zerrissen sich die niederländischen Boulevardblätter das Maul darüber, dass seine langjährige Verlobte, ein Model, mit ihm Schluss gemacht hatte. Verwest hatte den geplanten Hochzeitstermin drei Mal hintereinander verschoben. Er lebt, schläft, arbeitet, komponiert und produziert unterwegs. Er braucht ja nichts außer einem Laptop und einem Kopfhörer.

http://vimeo.com/91090531
Die neue Single von Tiestos Album "A Town Called Paradise".

Der Verkaufsschlager EDM treibt längst Popstars aus allen Lagern zu den europäischen DJs: David Guetta schneidert seit Jahren Rihanna oder Lady Gaga die Hits, Avicii hat gerade die neue Coldplay-Single produziert und arbeitet am nächsten Madonna-Album, Verwest hat Songs mit Nelly Furtado geschrieben. Und sogar Las Vegas setzt auf den Trend: Wo früher regelmäßig Elvis oder Celine Dion auftraten, spielen heute Superstar-DJs. Verwest hat mit dem Casino-Club "Hakkasan" einen Vertrag für etwa 30 Auftritte im Jahr. Allein damit soll er zwischen 10 und 20 Millionen Dollar verdienen. Für ein Konzert braucht er weder Instrumente noch Helfer, die sie schleppen. Er braucht vier SD-Speicherkarten, wie sie in Digitalkameras stecken. Darauf sind die fertigen Songs. Was er zum Mischen der Übergänge braucht, steht sowieso in jedem Club. Bis Dezember 2015 ist DJ Tiësto ausgebucht.

Später am Nachmittag sitzt Verwest wieder im Auto und sieht etwas zerdrückt aus. Die Wasserflasche ist leer, zwischen den Augenbrauen klebt ein fingernagelgroßer orangefarbener Fleck, Schminke von einem TV-Interview. Die Sache mit den SD-Speicherkarten, die will er noch mal erklären. "Ich liebe ja nämlich Vinyl", sagt er. In seiner Heimatstadt hat er seit Jahren einen Lagerraum angemietet. Dort hortet er seine Sammlung, 10 000 Schallplatten und zwei nagelneue Plattenspieler. Wobei es eigentlich nur 5000 Platten seien, denn, er grinst sehr breit: Er habe sein ganzes Leben lang jede Scheibe doppelt gekauft. Eine zum Auflegen, die andere für später. In diesem Lagerraum also warten 5000 originalverschweißte Schallplatten darauf, von Tijs Verwest aufgerissen zu werden. Denn wenn er eines Tages aufhört mit den 300 Nächten in Hotels, dann will er sich einen winzigen Club in seine Wohnung bauen und nur noch Vinyl auflegen. Für niemanden außer sich und seine Freunde.

Das Konzert läuft dann übrigens gut. Das Publikum singt nach zwei Takten jeden Song mit.

Text: jan-stremmel - Fotos: Universal Music / Jordan Loyd

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