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Jungsfrage: Habt ihr eigentlich Angst vor uns?

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Die Jungsfrage:

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Es ist dunkel, denn es ist Nacht. Die Laternen erhellen die Straße nur wenig, der Heimweg ist lang. Plötzlich, vor mir: Schuhe klackern auf dem Pflaster. Damenschuhe, ganz eindeutig. Da vorne muss ich rechts abbiegen, die Damenschuhe biegen auch rechts ab. Da hinten dann links, die Damenschuhe auch links. Die zu den Damenschuhen gehörende Dame dreht sich um, wirkt nervös. Ich schaue möglichst harmlos, was nachts aber nicht gut sichtbar ist. Selbst Schuld, wenn sie unbedingt denselben Weg haben muss. Sie dreht sich wieder um, nervöser. Jetzt wird es richtig blöd, wenn wir noch einmal zusammen abbiegen. Wir biegen zusammen in den Volksgarten ab. Mit Lederjacke an und Kapuze auf dem Kopf sehen wir Jungs in der Nacht nicht am Vertrauenswürdigsten aus, das verstehe ich. Und nicht alle Männer mit Kapuzen und Lederjacken wollen nachts nur schnell ins Bett und vorher vielleicht noch ein Käsebrot, auch klar. Andererseits ist es kalt, die Haare leicht verschwitzt, die Kapuze bleibt auf dem Kopf. „Hey, Hallo! Ich war nur mit dem Jannie ein Bierchen trinken, und jetzt muss ich eben diesen Weg nach Hause laufen. Keine Angst, ich will dich auf gar, gar keinen Fall vergewaltigen. Das einzige, was ich heute überhaupt noch will, ist vielleicht ein Käsebrot!“, will ich rufen. Tue es aber nicht, wer ruft denn so etwas schon. Die Alternativen? Die Dame überholen, damit sie sich nicht verfolgt fühlt? Sobald ich meinen Schritt beschleunige, macht sie das auch. Am Ende der Hetzjagd, wenn das Wild, das ich doch gar nicht schießen will, gestellt und überholt ist, setzt es womöglich einen gezielten Tritt in den Unterleib und Pfefferspray in das Gesicht. Auch nicht das Wahre. Was also? Singen, Pfeifen? Um dann unbeabsichtigt das Mackie Messer-Motiv anzustimmen? Telefonieren? Keine gute Idee, selbst Hansi ist genervt, wenn man ihn immer um zwei Uhr nachts anruft. Vor einem Schaufenster stehen bleiben? Damit die rote Ampel da vorne wieder alles kaputt macht? Einen Umweg gehen? Um die Dame dann aus einer Seitenstraße zu überraschen? Wie ihr seht: Ich bin ratlos. Oder bin ich paranoid? Die Mädchenantwort:

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Komisch. Genau diese Begegnung, von der du da schreibst, hatte ich mal wieder gestern. Ich gehe so vor mich hin und jemand geht hinterher. Ich dann: egal, darf der da ja gehen. Nach einer Ecke denke ich: verrückter Zufall, das wird doch wohl nicht die Antonia von gegenüber sein, schaue, ist sie nicht, sondern so eine Gestalt in Kapuze und schwer erkennbar. Und da kann ich noch bis an mein Lebensende so viel Mutwasser saufen, wie ich will, in solchen Situationen kriege ich Angst. Du musst folgendes verstehen: Quasi seit dem Säuglingsalter sind wir darauf konditioniert, uns vorzusehen, Risiken zu vermeiden und alles in allem: Angst davor zu haben, dass uns jemand etwas antut. Das fängt mit unseren besorgten Eltern an, geht in der Grundschule mit dem Kasperle-Theater der örtlichen Polizei weiter, die mit der Geschichte vom bösen Krokodil vor zu viel Vertrauen in fremde Menschen warnen. In den Schultoiletten hingen irgendwann Fahndungsfotos von Exhibitionisten und Vergewaltigern. Es wurde uns immer und immer wieder von gut meinenden Menschen eingetrichtert, dass da draußen Gefahren lauern. Aber diese lauernden Gefahren sind kein komisches Konstrukt besorgter Erwachsener, das wir irgendwann ins Reich der Phantasie verbannen können. Dazu kommen nämlich im Laufe des Älterwerdens ein Eimerchen voll tatsächlichen Begegnungen der ekligen Art. Wenn du mal staunen willst, frag in lockerer Runde deine weiblichen Freunde nach ihren unangenehmen Erlebnissen mit Jungs und Männern. Ich würde mal annehmen, dass es keine gibt, die noch nie ein solches hatte. Die Bandbreite ist da relativ groß: es gibt die typischen Stalker-Erlebnisse, es gibt anonyme Anrufer, die sich einen abstöhnen, es gibt die eigenartigen Absenzen nach einem Glas Bier in der Diskothek, es gibt die Exfreunde, die plötzlich auf der Matte stehen und nicht mehr gehen, und sehr viel Schlimmeres. Und deshalb kann ich auf deine sehr nette Frage leider nur ganz unlustig antworten. Wenn du uns Mädchen wirklich was Gutes tun willst, dann gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Wenn du merkst, dass das Mädchen da vor dir Angst hat, dann kannst du entweder locker an ihr vorbei joggen – am besten auf der anderen Straßenseite. Oder du drückst dich für ein paar Minuten am nächsten Zigarettenautomaten herum. Dann frierst du dir zwar vielleicht einen ab, aber du kannst in dem Bewusstsein, ein ziemlich netter Typ zu sein, später zufrieden in dein Käsebrot reinbeißen. christina-kretschmer

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