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Mädchen, wollt ihr eine Glatze?

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Lange Haare = Mädchen. Kurze Haare = Junge. Junge mit langen Haaren = Komplett-durchgeknallter Freak. Mädchen mit kurzen Haaren = Lesbe, Emanze. Das waren so die Gleichungen vor 30, 40 Jahren, als die Beatles als subversive Elemente galten. Heute geht haarmäßig eigentlich alles was dazu führt, dass eine Geschlechtsbestimmung über die Länge des Haupthaars nicht mehr möglich ist. Die Frisuren aller Welt sind demokratisiert, androgynisert, ironisiert worden, anything goes, und das ist gut so. Was unsereins aber hin und wieder erstaunt, sind die Reaktionen, wenn eine von euch sich eine Nullfrisur verpasst. Natalie Portman zum Beispiel oder auch die Julia aus dem Zweitsemester. Während Jungs die Millimeterstoppeln mit einem Achselzucken und einem Ich fands mit langen Haaren ja besser quittieren, wird die Betreffende von euch gefeiert, als sei sie die wiedergeborene Simone de Beauvoir, eine heilige Vorkämpferin, die als selbstkasteiende Asketin für Frauenrechte eintritt, die endlich mit dem Haarterror der Schönheitsindustrie aufräumt, die in den Siebzigern als erste ihren BH verbrannt hätte und schutzlos-melancholisch wie Sinead OConnor in Nothing Compares to you auf alles scheißt. Der neuen Glatzenträgerin wird derselbe Mut wie der Jungfrau von Orleans attestiert und ein einstimmiges Seufzen hallt durch den weiblichen Freundeskreis: Ich würde auch mal gerne, aber ich trau mich nicht. Es ist, als sei die Glatze für das Mädchen ein Meilenstein auf dem Weg zur Frau, etwas, das ihr unbedingt einmal gehabt haben müsstet, bevor ihr wirklich frei sein könnt. Stimmt das? Wir machen zwar haarmäßig zwischen 12 und 25 auch so einiges durch, aber wenn wir uns eine Glatze rasieren, dann kommt ein bester Kumpel und rubbelt uns rabiat über die Stoppel und ein Mädchen fragt, ob sie das auch mal anfassen darf. Ansonsten aber hält sich die Aufregung über unsere nicht mehr vorhandenen Haare doch sehr in Grenzen. Ihr aber flippt aus, wenn eine eurer Freundinnen eine Glatze hat. Warum?


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

  Haare sind für uns Mädchen nicht nur Haare. Haare sind für uns immer auch Seelenzustand. Wir gehen zum Friseur, weil es uns reicht, weil irgendein Aspekt unseres momentanen Lebens eine Dauerschleife dreht, die uns kaputt macht. Schnipp schnapp, wir schneiden rein, wir lösen alles auf und machen alles anders, ab sofort. Oft passiert so etwas nach der Trennung von unserem Freund oder einer simplen Lebensmüdigkeit ob des eigenen Alltags. Fakt ist: Wir schneiden uns die Haare, um wieder neue, aufregende, und selbstbestimmte Menschen zu werden. Doch um uns irgendwie renoviert zu fühlen, müssen gar nicht so viele Zentimeter runter. Es reicht, eine Weile im Friseursalon zu sitzen und mit frisch geföhntem Kopf wieder heraus zu kommen. Schon einen Kurzhaarschnitt wagen die wenigsten von uns, zu groß ist die Angst vor wahrer, unwiderruflicher Veränderung. Wir mögen unsere langen Haare nämlich, und dass wir damit die verschiedensten Hochsteckfrisuren ausprobieren können. Wir mögen, dass wir sie offen tragen können und sie uns dann wärmen und wir mögen, dass wir uns an schlechten Tagen hinter ihnen verstecken können. Wir mögen, dass je nach Laune alles geht. Und natürlich mögen wir, dass ihr Jungs von unserer Haarpracht doppelt fasziniert seid, und ständig darin rumwuscheln wollt, weil ihr keine habt. Ein Kurzhaarschnitt wäre unter diesen Aspekten ja schon das Maximum an Alltagsrevolution für uns. Eine Glatze aber ist ein ganz anderes Kaliber. Eine Glatze hat nichts mehr mit einer kleinen Veränderung oder normalem Aufhübschen zu tun, eine Glatze kommt in ihrer Radikalität fast einer Selbstverstümmelung gleich. Es ist so was, wo Betroffene sagen würden: "Ich wollte mich endlich mal wieder spüren!" und man sich ein bisschen Sorgen macht. Britney Spears hat sich eine Glatze geschoren, als sie an ihrem tiefsten Tief angelangt war. Glatzen sind also auf den ersten Blick eher so etwas wie ein wandelnder Hilfeschrei von Mädchen, die sich aufgegeben haben. Aber dann gibt es ja auch diese unendlich schönen Glatzenmädchen wie Natalie Portman, und je länger wir darüber nachdenken, desto reizvoller finden wir diese Form der Selbstaufgabe. Denn  eigentlich, meinen wir zu erkennen, ist das ja keine Selbst- sondern nur eine Erwartungshaltungsaufgabe. Und das finden wir stark. Wie du schon sagst: die Frau, die sich eine Glatze schert, will nicht mehr gefallen. Sie zeigt der Welt, dass es ihr scheißegal ist, was irgendjemand von ihr denkt. Sie macht sich nackt und schämt sich nicht. Ihre Glatze ist auch eine Vertrauensfrage an die eigene Umwelt. Das Glatzenmädchen will herausfinden, ob sie bedingungslos geliebt wird, mit oder ohne wallender Mähne. Und obwohl ja heutzutage immer alle so individuell tun - eine Glatze rasiert sich kaum eine Frau. Denn eine Glatze ist und bleibt extrem, weil es nackter und freier gar nicht mehr geht. Und diese absolute Freiheit turnt uns sehr an. Alles Vergangene einmal runterscheren zu können, sich so blank zu machen, dass man nichts mehr zu verlieren hat - das muss sich unglaublich anfühlen. Alle Zügel loslassen, der Welt direkt ins Gesicht drücken, dass man auf Meinungen anderer und allgemeine Schönheitsideale einen Scheißdreck gibt. Das finden wir abenteuerlich. Mindestens einmal in unserem Leben wollen wir das gemacht haben. Natürlich braucht es dafür eigentlich keine Glatze, das wissen wir auch. Aber sie ist eben ein schönes Symbol. Und deshalb stöhnen wir jedes Mal, wenn wir wieder eine treffen, die es gewagt hat: Wow, wie mutig! Ich will das ja auch schon immer mal machen, nur ein einziges Mal. Irgendwann!" mercedes-lauenstein

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