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Mit illegaler Soundinstallation gegen Überwachung

Foto: Rocco und seine Brüder

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Coffe to Go, die Sonne scheint draußen. Herrlich. Plötzlich ist es sehr laut. „Was ehhh, ich kann dir gerne ins Gesicht treten, Alter“, schreit eine Frauenstimme. Dann rummst es.

Es ist Sonntagvormittag in Berlin Mitte. Gut gelaunte Menschen strömen die Treppen des U-Bahnhofs Bernauer Straße in Berlin hinauf, um zum Trödelmarkt am Mauerpark zu gelangen. Aber dann ist da dieser Lärm. Leute zucken zusammen. Gesichter frieren ein. Woher kommt er? Fragende Blicke. Vorerst keine Antworten.

Kunst heißt warten. Zumindest dann, wenn „Rocco und seine Brüder“ im Kabelschacht der Berliner U-Bahn unterm Bahnsteig herumkraxeln, um zwei klobige, kiloschwere Boxen zu installieren. Es ist Samstagnacht, wenige Stunden, bevor die Geräusche die gut gelaunten Sonntags-Ausflügler erschrecken werden. Erlaubt ist der Ausflug in den Untergrund natürlich nicht. Der Tunnel ist knapp 1,60 Meter hoch, durch unzählige Kabel saust Strom. Nur zwei Taschenlampen spenden Licht.

Auf dem Bahnsteig sind die Menschen betrunken. Zwei Männer singen Fußballlieder. Mädchengruppen kreischen, Jungsgruppen grölen. Viel Gelächter, Selbstdarstellung, Sprachengewirr. Es riecht nach Alkohol und U-Bahn-Schacht. Gerade wird in Berlin gefeiert, während sich Norbert Schmidt, der natürlich nicht Norbert Schmidt heißt, aber sich nun mal so vorgestellt hat, ein voll beladenes Rollbrett durch den Tunnel unter mir schiebt. Ein anderer hält mit der Kamera drauf. Später wird ein Video davon im Internet auftauchen, das, wenn es gut läuft, viral geht. Aber noch liegt das in weiter Ferne. Es zischt. Es knackt. 

Kommt dieses Klirren und Knacken und Zischen aus dem Kabelschacht? Seit Norbert mit einem Schlüssel, den er plötzlich aus der Tasche zauberte, in einer Tür verschwunden ist, hinter der sich Toiletten für Mitarbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) befinden, habe ich ihn nicht mehr gesehen. „Die Schlüssel sind uns so zugeflogen“, hatte er vorher noch gesagt und dabei gegrinst. Eigentlich sollte die Vorbereitung maximal zwei Stunden dauern, mittlerweile sind es drei. Knallgelbe Bahnen fahren vorbei. Warten.

2016 bauten sie ein Zimmer in einen U-Bahnschacht – eine Anspielung auf explodierende Mietpreise in Berlin

 

Rocco und seine Brüder, das ist ein loses Urban-Art-Kollektiv aus Berlin. Norbert Schmidt ist der Kopf der Gruppe, ungefähr zehn Männer und Frauen helfen mit. Mitte 20 sind einige von ihnen, Ende 30 andere. Früher, da hätten sie viel Graffiti gemacht, sagt Norbert, als wir uns einige Tage vorher zu einem Gespräch treffen. Daher stammt auch der Name, der sich auf die Graffiti-Karriere eines Mitglieds bezieht, aber eigentlich keine Rolle spielt, wie er sagt: „Wir brauchten halt einen Namen.“

Heute, da gehe es ihnen aber um etwas anderes als Graffiti: „Um politische Kunst, vielleicht auch politischen Aktivismus.“ 2016 bauten sie ein Zimmer in den U-Bahn-Schacht – in eine abgelegene Nische unter einem Notausgang. Eine Anspielung auf fehlenden Wohnraum und explodierende Mietpreise in Berlin. Sie dachten sich einen BVG-Mitarbeiter aus, der zufällig auch Norbert Schmidt hieß. Der schickte Fotos des Zimmers an Boulevardzeitungen. Die nahmen das Thema mit Kusshand.

Es folgten hitzige Diskussionen. Wohnt da unten etwa ein Obdachloser? Oder ein Geflüchteter? Nein. Das war Kunst und das musste weg. Die BVG war sauer, dass ihnen da so öffentlichkeitswirksam jemand auf der Nase herumtanzte. Es folgten weitere Aufreger. Rocco und seine Brüder statteten einen U-Bahn-Wagen als Kritik an andauernder Überwachung mit unzähligen Fake-Kameras aus, stadtweit kritisierten ihre Plakate den durch Airbnb vereinnahmten Wohnraum.

Rocco und seine Brüder gehören damit ähnlich wie das Peng! Collective zu jenen linksgerichteten Gruppen, die das Internet und den öffentlichen Raum nutzen, um mit Kunstaktionen auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen. Und um zivilen Ungehorsam zu äußern. Ihre Videos werden tausendfach angesehen, in sozialen Medien geteilt und in Kommentarspalten diskutiert. Lang ist die Halbwertszeit aber nicht, vieles verpufft nach spätestens einer Woche. Ob die politische Message dabei wirklich ankommt oder ein Großteil der Zuschauer nur geil auf spannende Videos ist, bleibt unklar. Immerhin: Arbeiten von Rocco und seine Brüder wurden schon in London ausgestellt und zuletzt im Berliner „The Haus“-Projekt gezeigt, einer Pilgerstätte für Urban-Art-Fans. „Aber um Selbstdarstellung geht es uns nicht“, sagt Norbert.

Jetzt will er mit einer Soundinstallation darauf aufmerksam machen, dass in Bahnhöfen alles gefilmt wird. Straftaten verhindern würde das nicht, sagt er, den Datenschutz mit Füßen treten aber schon. „Natürlich sollen Gewalttäter ermittelt werden, aber Kameras halten einen Besoffenen auch nicht davon ab, jemanden zu verprügeln“, sagt er. „Wir wollen mit unserer Installation ein allgemeines Unwohlsein auf dem Bahnhof erzeugen und zeigen, dass mehr Videoüberwachung gegen dieses Gefühl nicht hilft. Viele Menschen scheinen die Überwachung gar nicht mehr zu beachten.“

Später werden sie in einem Internetcafe die Videoaufnahmen unter falschem Namen auf die Plattform Vimeo laden, den Link bei Facebook teilen und abwarten, was passiert.

Vor der Lautsprecher-Aktion wurde über Wochen herumtelefoniert, herumgeredet, herumgeschrieben. Jetzt sitze ich neben Norbert in einer Wohnung, in der er eigentlich gar nicht lebt. Optisch passt er nach Berlin, grinst viel, trägt ein buntes Cap. Manchmal sagt er Sachen wie „icke“ oder „jut“. Er wirkt wie ein Schelm, nicht wie ein Krimineller. Trotzdem: Die Aktionen sind strafbar. Mal Sachbeschädigung, mal Hausfriedensbruch. Gefährlich können sie auch sein: Die Berührung mit Stromschienen endet oft tödlich, unbemerkt herbeirasende U-Bahnen sind nicht ohne. Die Polizei ermittelt gegen Rocco und seine Brüder.

 

Aber Norbert und der Rest der Gruppe fühlen sich sicher. „Wir haben während der Graffiti-Zeit jahrelang die Schächte erforscht, wir kennen uns aus“, sagt Norbert. „Angst um mein Leben habe ich nicht, gesetzliche Probleme sind natürlich blöd. Die halten uns aber von nichts ab.“

 

Einige Tage später. Samstagnacht, es ist spät, in wenigen Stunden wird Norbert durch einen Kabelschacht schleichen. Ein Laptop schimmert bläulich. Einer der Gruppe schneidet Sound-Effekte zusammen. Schreie, Aufnahmen von Gewaltorgien in U-Bahnstationen: „Was ehhh, ich kann dir gerne ins Gesicht treten, Alter!“ Im Raum liegen die zwei riesigen Boxen, außerdem Kabel und ein kleiner MP3-Player. In einem Auto warten noch zwei quadratische Metallgitter. „Die Boxen kommen in den Kabelschacht, aus dem Boden kommen diese Gewaltorgien-Geräusche“, sagt Norbert. „Die eigentlich geschlossenen Luken zum Schacht ersetzen wir mit den Gittern.“

 

Zusätzlich haben sie eine Bahnhofs-Durchsage besorgt. „Ding Dong“ macht es. „Es folgt eine Durchsage der BVG-Sicherheit …“

 

Wochenlang hätten sie planen müssen, sagt Norbert. Er nutzt Worte wie Flächenmanagement, wenn er über die Suche nach dem richtigen U-Bahnhof spricht. Er wirkt hochprofessionell. „Zuerst recherchieren wir zum Thema, dann müssen wir die nötigen Materialien besorgen, dann vor allem einen richtigen Ort finden.“ Für die Aktion, die gleich vorbereitet werden soll, ist der U-Bahnhof Bernauer Straße genau richtig. Er ist hochfrequentiert.

 

„Die BVG hat 48 Millionen Euro fit gemacht, um in diesem Jahr noch mehr Kameras zu installieren“, sagt Norbert. Zusätzlich zu den existierenden,  2016 waren das 13 640. Außerdem gebe es am Bahnhof Südkreuz das Pilotprojekt zur Gesichtserkennung. „Langsam geht es wirklich in die Richtung von Zukunftsdystopien à la ‚1984‘. Ich hätte nicht gedacht, dass so was in einem liberalen Land wie Deutschland Realität werden könnte.“

 

Norbert packt orangefarbene Warnwesten ein. „Sasse“ ist darauf zu lesen – ein Unternehmen, das für Sauberkeit in der U-Bahn sorgt. Die Westen haben sie selbst bedruckt. Nach der Aktion werden sie verbrannt. Norbert stoppt und stutzt. „Das ist alles save für die Menschen auf dem Bahnhof, oder?“, fragt er. „Das Letzte, was wir wollen, ist, jemandem Schaden zuzufügen. Das ist wichtig“, sagt Norbert murmelnd.

 

Mittlerweile ist es mitten in der Nacht. Norbert und ein Freund tragen die Boxen zu einem Auto. Vorher haben sie alles akribisch mit Fensterputzmittel abgewischt, um Fingerabdrücke zu vernichten. Vorsicht muss sein.

 

Das Auto fährt mit lauter Techno-Beschallung durch das nächtliche Berlin. Morgen früh, am Sonntag, wenn viele Menschen unterwegs sind, muss die Aktion starten. Dann halten wir und Norbert verschwindet mit einem Freund im U-Bahnhof …

 

Männer plustern sich auf, stellen sich schützend vor ihre Freundinnen, als die Schreie ertönen

 

Knapp drei Stunden später klettert er endlich aus einer Luke im Boden mitten auf dem Bahnsteig. Drei Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes gucken mürrisch, unternehmen aber nichts. Die gefälschten Warnwesten scheinen zu funktionieren. Norbert verschwindet vorsichtshalber trotzdem.

 

Sonntagvormittag. Ding Dong macht es. „Es folgt eine Durchsage der BVG-Sicherheit. Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund des gehäuften Auftretens von Gewaltexzessen in letzter Zeit, werden unsere Bahnhöfe ab sofort lückenlos videoüberwacht. Außerdem haben Ausschüsse 48 Millionen Euro für neue Videotechnik lockergemacht, weil die rund 15.000 Kameras im öffentlichen Nahverkehr die begangenen Gewaltstraftaten nicht verhindern konnten. Auch müssen wir Sie aus rechtlichen Gründen darüber informieren, dass das als erfolgreich befundene Pilotprojekt zur Gesichtserkennung am Berliner Südkreuz von unserer Sicherheitsabteilung adaptiert wurde und nun an allen 173 Bahnhöfen er Berliner Verkehrsbetriebe in Kraft tritt. Mit freundlichen Grüßen. Ihre Berliner Verkehrsbetriebe.“

 

Kurz nach der Ansage folgen wieder diese Schreie und Pöbeleien, sie hallen durch den ganzen Bahnhof. Die Stimmung ist angespannt. Eine Frau mit Dreadlocks redet empört auf ihre Freundin ein, nachdem sie die Ansage aufmerksam verfolgt hat. Männer verändern ihren Gang, plustern sich auf, stellen sich schützend vor ihre Freundinnen, als die Schreie ertönen. Ein Vater hält seine Arme schützend um seinen Sohn. Ein Mann, der die Boxen unter den Gittern im Boden erspäht hat, schimpft wütend auf Türkisch. Unwohlsein macht sich breit. Einige Touristen, die nichts verstehen, machen Selfies.

Alles ging sehr schnell. Norbert und andere Mitglieder von Rocco und seine Brüder waren in den Bahnhof gegangen, hatten wieder die Warnwesten übergezogen und im Tunnel die Gitter ausgetauscht. Der Bahnhof war voller Menschen. Niemand interessierte es. Sie schlossen die Boxen an, verschwanden kurz in einem Häuschen in der Mitte des Bahnsteigs und manipulierten das Mikrofon, durch das normalerweise jemand Verspätungen ankündigt.

 

Alles läuft im Loop, über mehrere Stunden. Verwirrung. Dann kommen immer mehr Männer in grünschwarzen Jacken die Treppe heruntergehastet. Die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes und einige Polizisten setzen dem Treiben ein Ende.

 

Norbert und die anderen sind längst weg. Sie stoßen mit Bier an. Die Stimmung ist gut, alles hat geklappt. „Die Angst war da. Da bringt auch keine Videoüberwachung was“, sagt er. Er schmunzelt. „Übrigens: Wir lieben die BVG, lieben die U-Bahn und ihre Tunnel!“

 

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