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Bequemer Stuhl plus trockene Pflanze

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Ehe ich fast den ganzen Tag sitze, stehe ich am Morgen im Aufzug. Er fährt mich zwanzig Stockwerke weit nach oben. Hinein in ein Büro, in dem ich einen eigenen Tisch habe, auf dem meine Dinge liegen und in dessen Schubladen Tee, meine Halstabletten gegen die letzte Erkältung, mein Ersatzladegerät fürs Handy und diverse andere Sachen lagern. Dieser Tisch mit den vollen Schubladen in dem Büro im zwanzigsten Stock ist wie ein zweites Zuhause. Dort verbringe ich seit mehr als eineinhalb Jahren (fast) täglich beinahe genauso viel Zeit wie in meinem richtigen Zuhause. Manchmal sogar mehr.

Eigentlich wollte ich nie einen Bürojob haben. Ich habe mir immer vorgestellt, ich würde niemals so arbeiten wie meine Elterngeneration, sondern jeden Tag woanders und dauernd auf den Beinen sein. Doch dann kam dieses Jobangebot, und seitdem arbeite ich die meiste Zeit in einem Großraumbüro mit acht anderen Menschen. In einem sehr modernen Hochhaus, in dem jeder seinen Arbeitsplatz mit rückenschonendem Stuhl hat, in dem es dauernd nah am Vertrocknen dahinvegetierende Büropflanzen und Küchendienste gibt, in dem Teambuilding-Maßnahmen, Fortbildungen und Betriebsversammlungen durchgeführt werden. Ich fühle mich in diesem riesigen Haus manchmal sehr klein. Ich weiß meistens nicht, was in den anderen Stockwerken und Büros geredet und gearbeitet wird. Nur manchmal bekomme ich etwas davon mit, weil eine andere Büropartei meine Büropartei oder sogar mich selbst kontaktiert oder ich jemanden kontaktiere, weil ich Hilfe oder Infos aus einem anderen Arbeitsbereich als meinem eigenen brauche. Das ist dann, als würden die Nachbarn bei meiner WG klingeln und fragen, ob wir mal zusammen kochen wollen, oder als würde ich nebenan fragen, ob ich mal den Hammer ausleihen darf. Dann bekommt man einen Einblick in das Zuhause der anderen in diesem viel zu groß geratenen Mehrfamilienhaus am Rande der Stadt, dem Zweitwohnsitz all derer, die jeden Tag hierherkommen und viele Stunden auf ihren rückenschonenden Stühlen sitzen, an Tischen, die im Prinzip alle gleich aussehen, von ihnen aber durch allerhand Kram individualisiert werden. Abseits dieser sporadischen Kontakte bleiben die anderen Parteien vage. Natürlich wabern Gerüchte und Ahnungen durch die Aufzüge und Flure, das Treppenhaus und die Kantine. Irgendjemand weiß nämlich immer Bescheid. So wie die alte Dame, die jeden Tag am Fenster steht und im Blick hat, wer kommt, wer geht, wer beim Friseur war, wer schwanger ist, wer sich getrennt und wer geheiratet hat. Manchmal lauscht man diesen Ahnungen gern, manchmal verkriecht man sich aber auch lieber in seiner eigenen WG und in seinem Zimmer und setzt sich im Büro an den Schreibtisch, mitten hinein in die wohlbekannte Kollegengemeinschaft, duckt sich hinter den Bildschirm, setzt die Kopfhörer auf und hofft, dass der Blick der alten Dame einen nicht gestreift hat und man nicht als Teil einer Ahnung durch das Treppenhaus wabert.

Das Bürozuhause gibt mir, mehr als jeder Klassenraum in der Schule und jeder Vorlesungssaal in der Uni, das Gefühl, angekommen zu sein. Früher hat man dauernd den Platz gewechselt, nirgends eine Spur hinterlassen, ständig ging man woandershin, und jemand anders saß dort, wo man kurz zuvor selbst noch gesessen hatte. Man war ein Platznomade und besiedelte neue Tische wie Wohnungen zur Zwischenmiete. Jetzt habe ich einen festen Wohnsitz und habe mich dort häuslich eingerichtet. Aber das Gefühl, angekommen zu sein, birgt auch die Angst, aus Trägheit nie wieder wegzugehen. Irgendwann festzustellen, dass man sich mit dem bequemen Stuhl und der trockenen Pflanze so sehr arrangiert hat, dass man übersieht, wenn ein Umzug angebracht wäre. Das wäre Cocooning am Arbeitsplatz. Und davor habe ich, trotz aller Wohnlichkeit, ein bisschen Angst.

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