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Sophie hat ihren Freund erfunden

Marlon und Sophie – sie waren nie ein Paar.
Foto: unsplash, Bearbeitung: Daniela Rudolf

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Marlon, wie er in einem weißen Hemd an seinem silbernen Mercedes lehnt – groß, trainiert, mit dunklen Locken, die er nach hinten gelt. Dieses Foto hat Juliane noch immer im Kopf. Marlon ist der Freund von Sophie, mit der Juliane studiert hat. Das Foto ist der Bildschirmhintergrund von Sophies Laptop. Drei Jahre lang sieht Juliane es fast jeden Tag in der Uni, genauso wie sie Sophie fast jeden Tag sieht. Die beiden sind eng befreundet, machen jedes Projekt zusammen, erzählen sich alles. Denkt Juliane zumindest. Bis zu dem Tag, an dem sie erfährt, dass es Marlon gar nicht gibt. Also es gibt ihn, aber er ist nicht Sophies Freund. Niemand war bisher Sophies Freund. Aber Marlon ist nicht der Erste, den sie dafür ausgibt. 

„Pseudologia phantastica bezeichnet eine extreme Form des krankhaften Lügens“, erklärt Prof. Dr. Hans Stoffels, der in Berlin eine Privatpraxis für Psychiatrie und Psychotherapie leitet. Der Begriff geht auf den deutschen Psychiater Anton Delbrück zurück, der ihn 1891 in „Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler“ erstmals definierte. Umgangssprachlich wird auch der Begriff „Hochstapler“ verwendet. Den sogenannten Pseudolog*innen geht es vor allem darum, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Ärzt*innen oder ihres Umfelds zu stehen. Häufig liegt eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vor, resultierend aus einem tiefen Minderwertigkeitskomplex.

Sophie täuscht die Beziehung mit Marlon über Jahre hinweg vor. Fälscht Nachrichten, erfindet Reisen mit ihm, macht sich selbst teure Geschenke, die sie als seine ausgibt. Sie erzählt nicht jedem von Marlon, aber vor allem Juliane. Als die, durch einen Zufall, die Wahrheit herausfindet, ist sie nicht sauer auf Sophie. Nicht mal enttäuscht. Nur geschockt. Empfindet Mitleid, will helfen, ist überfordert. Wie konnte es soweit kommen?

Juliane und Sophie lernen sich im Herbst 2012 an der Uni kennen. Gemeinsam beginnen sie ein Studium, freunden sich schnell an. Sophie ist da angeblich schon fast zwei Jahre mit Marlon zusammen. Er, Ende Zwanzig, wohnt in Hannover, arbeitet als Immobilienmakler, ist beruflich an die Stadt gebunden. Die beiden streiten häufig, weil Sophie nicht zu ihm ziehen will. Zudem ist Marlon extrem eifersüchtig. Juliane weiß das, denn Sophie versorgt sie regelmäßig mit Screenshots seiner vorwurfsvollen Nachrichten – die sie sich selber schickt. 

„Anstatt sich, wie es früher üblich war, als Held, Graf oder reicher Fabrikbesitzer auszugeben, erfinden sich Betroffene heute gerne als Opfer, um Mitleid zu wecken“, erzählt Prof. Stoffel. Es gibt Pseudolog*innen, die sich Vergewaltigungen ausdenken, schwere Krankheiten, Unfälle. Eine Amerikanerin behauptete fälschlicherweise, am 11. September 2001 im World Trade Center gewesen zu sein, leitete sogar eine Selbsthilfegruppe, bis sie aufflog.

Die erfundenen Auseinandersetzungen mit Marlon bedeuten für Sophie Mitgefühl von Juliane. Zudem kann sie bei Paarthemen mitreden. Denn auch Juliane hat einen Freund. Manchmal holt er sie von der Uni ab oder geht mit ihnen feiern. An Weihnachten ziehen Juliane und Sophie gemeinsam los, um für ihre Partner Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Dass sie Marlon in fast vier Jahren nie kennenlernt, irritiert Juliane damals nicht. Sophie versorgt sie zuverlässig mit Anekdoten, sogar mit Fotos seiner Social-Media-Accounts. Es fällt nicht auf. 

„Außerordentliche Imaginationskraft“

„Ein hohes Maß an Kreativität, die Neigung zum Phantasieren, ist typisch für Betroffene“, sagt Prof. Stoffels. Oft äußere sich diese Begabung darin, Geschichten zu erzählen und sie verblüffend realistisch auszuschmücken. Pseudolog*innen überzeugen damit nicht nur andere, sondern durch Autosuggestion, zumindest phasenweise, auch sich selbst. „Außerordentliche Imaginationskraft“, betont Prof. Stoffels, „ist zunächst eine positive Eigenschaft – es sei denn, man nutzt sie zur Täuschung über die Realität.“

Das Einzige, das Juliane auffällt, ist die Mauer, die Sophie um sich aufgebaut hat. Männern gegenüber ist sie abweisend, fast arrogant. „Wie auf einem sehr hohen Ross“, sagt Juliane. Annäherungsversuche jeglicher Art blockt Sophie ab, noch bevor sie überhaupt angesprochen wird. Wenn die beiden feiern gehen, läuft es immer ähnlich ab. Juliane tanzt ausgelassen und flirtet, trotz Freund, wird häufig angesprochen. Sophie hingegen sitzt meist nur da, verschlossener Blick, in den Händen ein Drink und ihr Iphone. Mit Marlon schreibend, wie sie sagt.

Sitzend ist Sophie fast so groß wie Juliane. Sie bevorzugt flache Schuhe, ihre Kleidung kaschiert. Fast immer trägt sie eine schwarze blickdichte Strumpfhose. Juliane weiß, dass Sophie unter ihrer überdurchschnittlichen Größe leidet. „Ich glaube sie fühlt sich, als wäre sie im falschen Körper geboren“, sagt Juliane. Einen Hinweis darauf gibt Sophies Instagram-Profil – dort, wo sich die meisten so präsentieren, wie sie sich am liebsten sehen. In Sophies Fall: mit langen geglätteten Haaren, pink getönten Wangen, kirschroten Lippen. Die meisten ihrer Fotos zeigen nur ihr Gesicht, maximal den Oberkörper. 

„Pseudologen lügen, um mit ihren Geschichten ihr Selbstwertgefühl zu erhöhen“, erklärt Prof. Stoffels. „Sie machen anderen und sich etwas vor, um einer Wirklichkeit zu entfliehen, mit der sie nicht fertig werden.“

Solange sie, wie auf Instagram oder Tinder, die Kontrolle über ihr Erscheinungsbild hat, ist Sophie selbstsicher, blüht auf. Wenn sie mit Männern chattet, so erlebt es Juliane, gibt sich Sophie verführerisch, lockt, spielt mit ihnen. Wird es jedoch konkret, blockt sie ab. Vor allem bei einer Sache: Sex. Juliane glaubt, die Ursachen dafür zu kennen. Zum einen ist da Sophies gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper, die Scham. Zum anderen fehle Sophie schlichtweg die Erfahrung. „Vielleicht ist sie sogar noch Jungfrau“, so Juliane. Die Unsicherheit vorm ersten Mal kennt wohl jeder Mensch: Angst, sich zu blamieren, nicht zu genügen. Ist man, wie Sophie, über das Teenageralter hinaus, kommen weitere Unsicherheiten hinzu. Hält er mich für prüde? Wird er mich noch wollen, wenn er glaubt, dass mich bisher niemand wollte?

Wie so oft liegen die Ursachen, die zu Pseudologia phantastica führen, häufig in der Kindheit. „Man kann davon ausgehen, dass ein Betroffener schwerwiegende, frühkindliche Entbehrungen erleben musste und die Realität für ihn so traumatisch war, dass er von dem ständigen Drang beseelt ist, dieser Realität zu entfliehen“, so Prof. Stoffels.

Bei Sophie jedoch scheint das nicht der Fall. Ihr Elternhaus: intakt, nach außen hin liebevoll. Die Eltern sind seit Jahrzehnten verheiratet, beide arbeiten, sie haben ein großes Haus mit Garten in guter Lage. Sophie hat drei erwachsene Geschwister, die ganze Familie trifft sich regelmäßig zu Feier- und Geburtstagen. Dann wird sich gekleidet und aufgetischt wie im Nobelrestaurant. Man ahnt, welche Art von Beziehung und Lebensstil sich Sophie wünscht.

Es ist daher kein Wunder, dass Sophie sich grade Marlon, den sie flüchtig auf einer Party kennenlernt, als „Freund“ aussucht. Marlon, der seine Pasta gern mit Trüffel isst. Der selbst beim Wasser zur Marke greift und der bevorzugt an Orte reist, die mit „St.“ beginnen: St. Moritz, St. Barth, St. Tropez. Die Bilder von Champagner-Flaschen und Wachsjacken postet er freimütig auf Facebook und Instagram und versorgt Sophie so mit Hintergrundinformationen. Was Sophie mitbekommt, gibt sie weiter an Juliane.

Als sich Juliane und ihr Freund dann im Frühjahr 2016 trennen, verkündet wenige Wochen später auch Sophie: Bei ihr und Marlon sei Schluss. Wie bei Juliane entbrennt ein Trennungsdrama mit Streitereien und endlosen WhatsApp-Diskussionen. So gewinnt Sophie die Aufmerksamkeit zurück. „Im Nachhinein betrachtet, wirkte es wie abgeguckt“, sagt Juliane. Warum auch nicht. Woher soll jemand, der noch nie eine Beziehung erlebt hat, wissen, wie Schlussmachen funktioniert.

Die Geschichte, das ganze Drama um Marlon und Sophie, hätte damit vorbei sein können. Wäre nie aufgeflogen. Doch es kommt anders. Eines Tages trifft Juliane in einem Restaurant auf Marlon. Durch Zufall, über einen gemeinsamen Freund, sitzen sie am selben Tisch. Marlon hat seine Freundin dabei, sie wirken glücklich. Juliane verurteilt ihn. Hat Sophie ihr nicht noch vor kurzem eindeutige Nachrichten gezeigt, die Marlon ihr seit der Trennung immer wieder schickt? „Du fehlst mir, ich träume von dir!“. Sogar Telefonate und nächtliche Treffen soll es gegeben haben. „Wäre Sophie dabei gewesen, hätte ich mir eine spitze Bemerkung wahrscheinlich nicht verkneifen können“, sagt Juliane. Stattdessen schreibt sie nur an Sophie. „Rate mal, mit wem ich grade hier sitze?!“ 

Ein Missverständnis?

„Wie kannst du mit meinem Ex rumhängen!“, kommt es zurück. Julianes Handy vibriert den ganzen Abend. Sie ist genervt. Eine Bekannte von Marlon fragt irgendwann, was los ist. Juliane erzählt. „Sophie?“ – „Na, die Ex-Freundin von Marlon.“ Die Freundin ist stutzig, fragt mehrfach nach dieser Sophie, die sie nicht kennt, obwohl Marlon einer ihrer besten Freunde ist. Juliane erzählt. Alles. Ein paar Tage später bekommt sie einen Anruf von Marlon: „Sophie und ich, ein Paar? Niemals! Was ist das für eine Geschichte? Ein Missverständnis?“

Juliane ist verwirrt, beginnt an ihrem Gedächtnis zu zweifeln, kontaktiert schließlich Sophies Bruder und ein paar von Sophies engsten Freund*innen. Die kennen keinen Marlon. „Nicht schon wieder“, sagt der Bruder nur. In der Oberstufe gab es da mal einen Sportler, vielversprechender Amateur, den Sophie monatelang als ihren Freund ausgab. In dessen Namen sie sich SMS mit einem zweiten Prepaid-Handy schrieb. Auch das kam raus, wurde aber als Jugendsünde abgestempelt.

Sich eine vierjährige Beziehung auszudenken, Nachrichtenverläufe zu fälschen, Reisen und Geschenke vorzutäuschen, ist hingegen keine Jugendsünde mehr. Es ist eine Verhaltensstörung, die man behandeln könnte. Als Juliane Sophie schließlich auf die ganze Sache anspricht, versucht diese zunächst, es abzustreiten. Als sie merkt, dass es dafür zu spät ist, gibt sie alles zu und entschuldigt sich mehrfach. Gründe nennt sie jedoch nicht. Juliane hat dafür Verständnis, möchte aber, dass Sophie eine Therapie macht. Sophie wird es bis heute nicht tun.

Dabei, so Prof. Stoffels lasse sich aus der Diagnose Pseudologica phantastica auch etwas Positives ziehen. „Die Phantasiebegabung kann genutzt werden.“ Bestes Beispiel dafür: Johann Wolfgang Goethe, der in seinem  1833 posthum veröffentlichten Werk „Dichtung und Wahrheit“ die übermäßige Imaginationskraft seiner Jugend thematisiert. „Wenn ich nicht nach und nach meinem Naturell gemäß die Windbeuteleien und Luftgestalten zu kunstmäßigen Darstellungen hätte verarbeiten lernen, so wären solche aufschneiderischen Anfänge gewiß nicht ohne schlimme Folgen für mich geblieben.“ Der Weg vom Pseudologen zum Schriftsteller ist allerdings lang. „Im ersten Schritt muss der Betroffene sich intensiv mit seiner Lebens- und Leidensgeschichte befassen und an den eigenen Emotionen arbeiten, um ein neues Selbstwertgefühl aufzubauen“, sagt Prof. Stoffels. Dafür ist neben einer dauerhaften, vertrauensvollen Zusammenarbeit mit einem Psychotherapeuten auch die Unterstützung von Familie und Freund*innen wichtig.

Juliane und Sophie bleiben befreundet. Nach Marlon gibt es weitere Männergeschichten, vor allem über Tinder. Juliane ist jedes Mal skeptisch, bis sie die Männer jeweils persönlich kennen lernt. Sophies  Beziehungen mit ihnen verlaufen, wie bei Marlon, niemals ohne Drama. Sie gibt sich unnahbar, stellt hohe Ansprüche, stößt die Männer vor den Kopf. Immer wieder wird sie verlassen. In Julianes Augen, gibt es viele Dinge, die für Sophie sprechen. Sie sei extrem loyal und hilfsbereit, entspannt im Umgang und humorvoll. Auch beruflich laufe es für sie gut. Sophie hat ein großes Netzwerk und neben ihrem Vollzeitjob eine kleines Start-up gegründet. Nur mit der Liebe will es nicht klappen. 

Juliane wünscht sich noch immer, dass Sophie eine Therapie macht. Denn sie glaubt, dass sonst irgendwann der totale Einbruch kommen wird. Dann, wenn Sophies Freundinnen heiraten, Familien gründen, vielleicht ohne sie in die Vorstadt ziehen. Eine Hochzeit, Nachwuchs – das lässt sich nicht vortäuschen. Das passiert oder es passiert nicht. Die Wahrheit ist da manchmal brutaler als die Lüge.

Hinweis: Dieser Text erschien erstmals am 28.09.2017  und wurde am 25.02.2021 nochmals veröffentlicht. 

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