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Jungs, was geht eigentlich am Pissoir?

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Liebe Jungs,
 
im Freien fällt es ja besonders auf. Während wir in Hockstellung in die Büsche kriechen, macht ihr einfach die Hose auf und steht da so lässig rum, als wolltet ihr mal eben in die Ferne gucken. Und weil ihr dazu in der Lage seid, immer und überall zu pinkeln, weil ihr Eure Blase so platzsparend unkompliziert in der Vertikalen entleeren könnt, wurden für Euch auch drinnen entsprechend platzsparende Vorrichtungen gebaut. Pissoirs oder schlimmer noch – Pinkelrinnen. Wie eine Horde Bergkühe steht ihr dann nebeneinander am Trog und bemüht euch, so auszusehen, als würdet ihr lässig in die Ferne schauen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


 
Und das geht mir nicht so richtig in den Kopf. Fliegt also mal die Klotür auf und ich erwische mit dem Stoß Ammoniak einen Blick auf aufgereihte Männer, frage ich mich jedes Mal: Seid ihr wirklich so lässig, wie ihr da tut? Ist es euch wirklich egal, neben und vor jedem Fremden loszupinkeln, der zufällig gerade auch muss? Oder kommt da vielleicht manchmal auch nur Getröpfel, als ein PFFFSCHT, wenn irgendeiner oder schlimmer noch – der neue Freund der Ex daneben steht und Euch von der Seite anhaut?
 
Das passiert nämlich, so höre ich, relativ oft: dass ihr redet beim Pinkeln. Redet! Ja, wir reden auch beim Pinkeln, aber eben von Kabine zu Kabine, mit Menschen, die wir ganz gut kennen, nicht mit Fremden, deren Genitalien grade freiliegen. Also, erklärt uns mal: Ist das nicht eigentlich total absurd, was ihr da so über dem Urinstein zusammenratscht? Könnt ihr Euch beim Pinkeln überhaupt konzentrieren, wenn der Blick doch mal nach unten wandert? Und wenn ein besonders unangenehmer Zeitgenosse Euch laut in den Strahl quatscht, wünscht ihr Euch das nicht doch mal insgeheim: so eine Kabine, ganz für Euch allein?

>>>Die Jungsantwort von michel-winde.<<<



Liebe Mädchen,

gut, dass ihr fragt. Denn ihr habt offenbar wirklich keinen Plan.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Der Denkfehler liegt am Ende, vorletzter Satz: „Könnt ihr euch beim Pinkeln überhaupt konzentrieren, wenn der Blick doch mal nach unten wandert.“ Casus Knaxus: konzentrieren. Denn ums Konzentrieren geht es eben nicht, wenn wir, wie du sagst, die Hose öffnen und lässig dastehen, als sähen wir in die Ferne. Wer sich konzentriert, bei dem geht nichts. Und wer sich noch mehr konzentriert, bei dem geht exponentiell weniger. Es gilt: Locker machen! Der Pinkler von Welt muss das lässige Pinkeln als Selbstverständlichkeit begreifen. Kein Grund, darüber nachzudenken. Hose auf, Schwanz raus, weltmännisches In-die-Ferne-schauen. Die Kippe im Mundwinkel darfst du dir denken.

Zwei Faktoren sind entscheidend: die eigene Stimmung und der Pissrinnen-Nachbar.

Denn es ist uns – du sagst es – natürlich nicht egal, wer da gerade neben uns steht, sein Genital freilegt und uns in den Strahl quatsch. Stichwort Proxemik – also die Sache mit Nähe und Distanz, die Nadja im aktuellen jetzt-Magazin am Beispiel Aufzug erklärt hat. Ich zitiere: „Die ‚persönliche Distanz‘, zum Beispiel in einem Gespräch, liegt bei 45 bis 120 Zentimetern, die ‚Intimdistanz‘ bei unter 45 Zentimetern. Im Aufzug können beide leicht unterschritten werden.“ Und was im Aufzug Beklemmung erzeugt, ist auf öffentlichen Toiletten nicht anders. Erschwerend hinzu kommt, dass wir – im ohnehin unübersichtlichen Spielfeld persönlicher Distanz – auch noch den eigenen Penis in der Hand halten.
 
Deshalb macht es einen gravierenden Unterschied, ob da gerade der Chef, Ex’s neuer Stecher oder Best-Buddy 45 bis 120 Zentimeter neben uns steht und sich erleichtert. Dem Chef schenken wir ein freundliches Nicken. Mit dem neuem Stecher versuchen wir – hier wird das Pinkeln Pose – ein Gespräch zu führen. Den Buddy heißen wir mit Pinkel-Fanfaren in der Zone des Persönlichen willkommen und reden drauf los. Immer gilt: Denken wir zu viel (Pose!), müssen wir uns konzentrieren (siehe oben). Dann schauen wir verlegen an die Wand und warten. Und warten. Der fortgeschritten-souveräne Pinkler weiß die Situation zu entschärfen und sagt’s frei heraus: „Ich kann gerade nicht.“ Das garantiert einen erleichternden Lacher, weil jeder das Problem kennt - kommt im Club aber vermutlich besser als im Büro.

Was nun die Inhalte der Gespräche betrifft, da möchte ich erneut den Fahrstuhl bemühen (danke, Nadja): „Das grundsätzliche Temperament der Leute zeigt sich im Fahrstuhl ganz klar. Wer ruhig ist, zieht sich zurück. Wer extrovertiert ist, dreht auf.“ Sagt Fahrstuhl-Experte Andreas Bernard. Was für den Fahrstuhl gilt, gilt auch fürs Männer-Klo. Klassen-Clown bleibt Klassen-Clown, auch an der Pissrinne.

Grundsätzlich gilt zudem: Die Stimmung macht’s. Wer nach acht Halben ans Pissoir wankt, dessen Zunge und Blase sitzen lockerer als die des Azubis mit dem Chef im Rücken. Büro (Hierarchie) oder Club (Alkohol), Fußballstadion (Gleichgesinnte) oder Festival (sowieso alles egal) – das spielt eine Rolle. Wirklich Wichtiges wird aber quasi nie erörtert.

Eins noch: So, wie in diesem Video des britischen Comedians Lee Mack ist es selbst mit dem Best-Buddy nicht.

http://www.youtube.com/watch?v=qJmgLqQ-uog

Und wem das alles nicht gefällt, der hat ja tatsächlich die Möglichkeit, sich in einer Kabine einzuschließen. Still, allein – und ohne jemanden, der einem in den Strahl quatscht.


Text: sina-pousset - Illustration: dirk-schmidt

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