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Jungs, was hat der Zivildienst mit euch gemacht?

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Die Mädchenfrage

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Liebe Jungs, irgendwie ist es ja nicht fair, dass die meisten von euch nach der Schule erst noch dem Staat einen Dienst erweisen müssen, während wir Mädchen uns schon Monate vor dem Abitur in hellbunter, aufgeregter Vorfreude zwischen Freistunden und Stuhlgerümpel hin und her fragen, was wir nun mit unserer lang ersehnten Freiheit anstellen wollen. Obwohl ich nie wirklich mit euch hätte tauschen wollen, gibt es etwas, um das ich euch in diesem Zusammenhang immer beneidet habe. Der besitzt nämlich folgende gute Eigenschaft: Er bewahrt euch vor den wohl nervenaufreibendsten Fragen der gesamten Abiturzeit. Sie klettern eifrig aus den Mündern der Verwandten und schallen einem dann unerbittlich und im stets gleichen Tonfall entgegen: „Und, was hast du jetzt vor? Was willst du mit deinem Leben so anfangen?“ Mit diesen zwei Fragen bekommt man einen sehr schweren Mantel der Erwartung über die zarten Schultern gehängt, der einem einfach noch nicht richtig passt und den man auch noch gar nicht anziehen will. Ihr habt es dann gut, ihr könnt federleicht antworten: „Ja, erstmal Zivildienst!“ Das klingt solide, wird euch disziplinieren und auf den Boden der Tatsachen holen. Und so. Außerdem besteht immerhin die Möglichkeit, dass ihr dadurch beruflich inspiriert werden könntet. Erweckt also Vertrauen. Und damit ist das Thema vom Tisch. Aber was genau passiert denn da jetzt mit euch? Häufig findet der zu vollbringende Zivildienst ja in Einrichtungen statt, in denen sich Menschen aufhalten, die alt oder krank oder auf geduldige, liebevolle Hilfe angewiesen sind. War das nicht erst ziemlich verunsichernd? Hat das permanent geforderte Einfühlungsvermögen euer cooles Jungsherz weicher gemacht und eure Sicht der Dinge in bestimmten Situationen noch mal neu aufgelegt? Und wenn ja: Was für Situationen waren das genau? Und hat euch eure Zeit als Zivildienstleistender in eurer beruflichen Entscheidung jetzt eigentlich wirklich beeinflusst? Und was passiert, wenn viele Einrichtungen sich bald dazu entschließen, keine Zivis mehr auszubilden, weil ihnen die neue Dienstzeit von sechs Monaten nicht mehr rentabel erscheint? Würde damit eine entscheidende Station in eurer Entwicklung verloren gehen? mercedes-lauenstein Die Antwort der Jungs liest du auf der nächsten Seite.


Die Jungsantwort:

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich hätte mir einen entspannten Hausmeisterjob suchen können, aber das hatte ich verpeilt. Die einzige noch freie Stelle war dann bei einem „sozialpsychiatrischen Dienst“. Ein Sozialpädagoge mit Fispelstimme erzählte mir etwas über die „Klientin“ und mir gruselte es. Frau S. hatte Klaustrophobie und Agoraphobie. Das heißt, sie hatte Angst in engen Räumen, aber auch auf großen Plätzen. Eine ziemlich doofe Kombination zweier Krankheiten, denn de facto hatte Frau S. überall Angst. Nur in ihrer eigenen Wohnung, da ging es. Mein Job war es, Frau S. zu besuchen und mit ihr einkaufen zu gehen. Anfangs fand ich Frau S. eklig. In ihrer Wohnung miefte es nach Katzenfutter, Talg und Staub. Ihr Gesicht war vor lauter Medikamenten ganz aufgequollen und sie trug Klamotten, die Anfang der 80er bei C&A verkauft wurden. Frau S. war nicht die Person, mit der man als 19-Jähriger seine Zeit verbringen will. Trotzdem mochte ich Frau S. irgendwann ganz gerne. Wir hatten sogar Spaß zusammen, sie erzählte mir die Geschichte ihrer Krankheit. Ich kapierte, dass solche Krankheiten nichts sind, was man mit einem „Stell dich mal nicht so an“ kuriert. Als mein Zivildienst zu Ende war, habe ich mir überlegt, ob ich den Kontakt zu ihr halten soll. Ich habe mich dagegen entschieden, weil Frau S. letztlich Arbeit war. Im Nachhinein ist unser Zivildienst meistens eine Zeit, an die man gerne zurückdenkt. Die Geschichten der Zivis Deutschlands gleichen sich, wie sich auch die Geschichten von Abiturienten ähneln: mit Blaulicht zum Breznholen fahren, die ganze Nachtschicht verkiffen, Frau T. beruhigen, dass sie nicht blind ist, sondern dass es nur mitten in der Nacht ist, oder auf dem vereisten Parkplatz mit dem AWO-Wagen Stunts üben. Wir hatten kaum Verantwortung, viel Spaß und machten Erfahrungen, die wir später nie wieder machen (außer wir studieren Sozialpädagogik). Für viele testosteron-kontaminierte Hirne ist eine Zwangsbeschäftigung mit Kranken und Schwachen das beste, was ihnen passieren kann. Und dass Zivildienstleistende mehr zu einer funktionierenden Gesellschaft beitragen, als Jungs, die in einer Kaserne rumsitzen und lernen, wie man ein Gewehr richtig reinigt, dürfte auch klar sein. Nur: Würdet ihr sagen, Monatsblutungen sind voll super, weil man dadurch lernt, Bauchschmerzen zu ertragen? Ich war 19 und was mich interessierte, war: die neue Platte von Jay-Z, die erste eigene Wohnung, was ich studieren soll, reisen, in einer Großstadt leben, und vor allem Sex. Alte Menschen mit psychischen Problemen interessierten mich nicht. Ich habe weder mit Anarchisten noch mit der FDP viel am Hut, aber ich sehe bis heute nicht ein, dass ein Staat volljährige, junge Männer zwingen kann, ein Jahr (oder nun ein halbes Jahr) Arbeit für wenig Geld zu verrichten, die sie gar nicht interessiert. philipp-mattheis

Text: mercedes-lauenstein - Illustration: Katharina Bitzl

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