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Jungs, warum steht ihr so auf Messer?

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Die Mädchenfrage:

Liebe Jungs,

dass ihr euch für scharfe Sachen interessiert, ist eh klar. Richtig scharf findet ihr aber auch alles mit Klinge: Samurai-Schwerter, Filiermesser, Dolche – und das gute, alte Schweizer Taschenmesser. Liegen mindestens drei davon in einem Schaufenster, könnt ihr einfach nicht daran vorbeigehen. Messer scheinen euch geradezu magisch anzuziehen. Vielleicht klappt es ja, wenn ihr frisch verliebt seid und vollauf damit beschäftigt, der Person zu imponieren, die gerade in eurem Arm hängt: Ein sehnsuchtsvoller Blick zu den Messern, ein weiterer zu dem / der Geliebten, ein kurzes Abwägen, und weiter. So viel Glück hatte ich leider noch nie.

Oder: Kann man vielleicht schon. Aber es wird einem suggeriert, dass man es nicht kann. Das ist eine anerzogene Angst. Klar, kommt so ein bisschen auf das Elternhaus an und wie regelmäßig man dort „Aktenzeichen XY“ angeschaut hat. Aber ich kenne schon viele Mädchen und Frauen, denen man eine gehörige Portion Nachtangst mit auf den Weg gegeben hat. Da war dann ein besorgter Vater oder eine vorsichtige Mutter und er oder sie wollte die Tochter lieber nicht nachts alleine vom Bus nach Hause laufen oder in diesen abgeschrammelten Club gehen lassen. Natürlich sind wir dann doch alleine gelaufen oder in den Club gegangen, aber vorher wurden wir umfassend gewarnt, beratschlagt und ausgefragt: „Pass auf, wenn du spät heimkommst, man weiß ja nie“, „Ist die Miri auch noch dabei? Mir wär wohler, wenn ihr zu zweit wärt“, „Geh besser außenrum, auch wenn der Weg weiter ist, aber da gibt’s wenigstens Straßenlaternen“, „Schreib bitte eine SMS, wenn es später als drei wird“. Einige meiner Mitschülerinnen waren sogar immer mit Pfefferspray bewaffnet. 

 

Ich erinnere mich auch an diverse Momente, in denen ich selbst diese Angst hatte, die mir von Eltern, Medien, Filmen und Serien mitgegeben worden war. Wenn ich an einer dunklen Straße entlanglief, rechts von mir Gebüsch und ein Park. Oder wenn ich nach Mitternacht in einer fast leeren, rumpelnden Regionalbahn saß, die gerade die tiefste Provinz durchquerte. Dann beäugte ich misstrauisch jeden, der an mir vorbeikam. War es eine Frau: Erleichterung. War es ein Mann: abchecken, ob er vertrauenswürdig oder irgendwie creepy aussieht. Dabei das Handy immer griffbereit haben.

 

Und dann kam das große Reinsteigern: Könnte man einfach an einer Haustür klingeln? Sich auf dem Zugklo einschließen? In eine Sparkasse rennen? Aber was, wenn der fiese Verbrecher auch eine Sparkassen-EC-Karte hat, mit der er die Tür öffnen kann – dann sitze ich ja erst recht in der Falle! Oder schaut jemand die ganze Nacht das Überwachungsvideo an und rettet mich dann? Was, wenn man mich hier wegklaut und keiner merkt’s und dann melden meine Eltern es morgen früh der Polizei, aber die finden mich nicht, und dann bin ich eines von den verschwundenen Mädchen, über die bei „Aktenzeichen XY“ berichtet wird, und nur ich und der Täter wissen, dass ich tot bin oder in einem Keller eingesperrt.

 

Kurz gesagt: Ich hatte harte Paranoia. Manchmal habe ich die heute noch. Ehrlich gesagt: nicht nur manchmal. Und weil ich noch gar nicht gesagt habe, wovor wir denn jetzt konkret Angst haben: davor, vergewaltigt zu werden. Davor, dass ein Mann, der sehr viel mehr körperliche Kraft hat als wir, uns in einen Hauseingang drängt oder in einen Straßengraben zieht. Sexuelle Gewalt, das wird uns so beigebracht, kann uns immer und überall erwischen. Und jede von uns kennt dann auch noch mindestens eine Freundin, der so was mal passiert ist. 

 

So, und nun zur Frage: Was, liebe Jungs, ist euer Pendant zu unserer Nachtangst? Vor was haben Mama und Papa euch gewarnt? Wovor fürchtet ihr euch, wenn ihr im Dunkeln unterwegs seid? Und wo? Auf einsamen Straßen, so wie wir? Oder eher in der Innenstadt? Oder vielleicht auch einfach: gar nicht? Nie? Vor niemandem? Sagt doch mal: Welche „Aktenzeichen XY“-Szenarien haben euch am meisten Angst gemacht?

 

Die Jungsanwort von Jakob Biazza

 

Liebe Mädchen, Einspruch beim Schwertgedöns. Dolche, Bowiemesser und diesen Samurai-Kram finden nur Zwölfjährige gut, die gerade Michael Dudikoff als Ninja in „American Fighter II“ gesehen haben – die dann aber sehr. Und Menschen vielleicht, bei denen das noch in irgendeiner Form nachhallt. In meinem Klischeebild haben die auch Kettenhemden, lesen Wolfgang Hohlbein und fahren zu Life-Rollenspielen. Völlig legitim natürlich. Aber ästhetisch doch was ganz anderes.

 

Tatsächlich, das aber eher als Randaspekt, würde ich sogar behaupten, die Entscheidung für ein bestimmtes Messer (und ein Messer überhaupt) sagt mindestens so viel über Menschen aus wie die Musik, die sie hören. Oder ihr Lieblingsdrink. Nehmt nur mal Butterflys oder Springmesser – ganz andere Welt als ein Leatherman. Wir sind bei Messern also, und das macht die Antwort so schwierig, mit mindestens einem Bein im Bereich Ästhetik und Schönheit. Platon und Kant haben sich mit diesen Themen sehr intensiv auseinandergesetzt ohne ganz weit zu kommen. Und die sind viel klüger als wir. Messer sind also schön. Ganz subjektiv – aber damit mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit (Kant). Die wichtigere Frage wäre also eigentlich: Warum, findet ihr sie nicht schön?! Aber die bringt uns nicht weiter. Schon klar. Ich gehe jetzt also mal von mir aus – und hangle mich von dort im Ausschlussprinzip weiter, in Ordnung? Bei mir sind es gerade Opinel und Laguiole – diese bisschen manirierten Französischen. Mit Korkenzieher. Dinge, die man damit tun kann: Wurst aufschneiden

 

Käse aufschneiden

 

Brot aufschneiden

 

Weinflaschen öffnen

 

Bären bekämpfen (sehr eingeschränkt)

 

Gelegenheiten pro Jahr, an denen das außerhalb der Küche passiert:maximal (!) zehn. Mit Bär: 0 Tage im Jahr, an denen ich eins dabei habe: 365. Und zwar mit Wonne. Will sagen: Ich brauche das Messer eigentlich nicht. Also muss es eine emotionale Komponente geben, warum ich es trotzdem so gerne dabei habe. Warum ich es schön finde. Und jetzt tauchen wir leider tief ins Archaische. Ich fürchte, das lässt sich diesmal nicht vermeiden. Achtung: Messer transportieren (abseits der Küche) Eigenschaften und Einsatzmöglichkeiten, die wir aktiv zwar eigentlich nicht nutzen, die dem Messer aber trotzdem anhaften. Die Situationen, in denen sie – meistens sehr theoretisch, aber immerhin – nützlich sein KÖNNTEN, schwingen implizit mit. Und reichen eben von Wurstschneiden über Speerschnitzen bis zu Bärenkampf und Zombie-Apokalypse. Sie geben uns das Gefühl, wenigstens auf ein paar zusätzliche Eventualitäten in dieser unerträglich komplexen Welt vorbereitet zu sein. Auch, wenn das rational betrachtet fast immer kompletter Unfug ist. Und ja: Da schwingt Ernährer und Beschützer mit. Was auch erklärt, warum oft nicht mehr ganz klar ist, ob es noch um Messer oder schon um Penisse geht, wenn über das Thema geschrieben wird. So wiehier: „Und wenn sich einmal eine Situation ergibt, in der das gute Stück hervorgeholt und fachgerecht angewendet werden kann, ist die Freude groß, vor allem, wenn weibliches Publikum anwesend ist.“ So. Und jetzt kommt die gute Freundin J. ins Spiel. Die hat auch ein Laguiole-Messer. Hatte sie schon vor mir. Hat sie auch immer dabei. Hat damit mal an der Isar Wurst für die Runde geschnitten. Und Brot und Käse. Und dann hat sie Wein geöffnet. Bären kamen keine vorbei. Zombies auch nicht. War trotzdem beeindruckend. So Ernährer- und Beschützer-mäßig. Sie liebt ihr Messer, sagt sie. Weil Messer eben schön sind. Sehr. Die Chancen stehen also gut, dass ihr das irgendwann alle versteht. Und nutzt. Dann bleiben wir gemeinsam vor dem Schaufenster stehen. Und staunen. Und dann knutschen wir verliebt weiter.

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