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Wir lieben Leid

Illustration: Federico Delfrati

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Hinweis: Enthält Spoiler für die sechste Staffel von Game of Thrones 

serien sadist
Illustration: Federico Delfrati

Wir lieben Leid. Bei anderen zumindest. Jenen anderen, die wir nicht mögen. Vor kurzem bingewatchte ich mich eine Zugfahrt lang durch die sechste Staffel von „Game of Thrones“. Einige Charaktere in dieser Serie sind sehr fies. Als der besonders fiese Ramsey dann endlich von seinen eigenen Hunden verschlungen wurde, bemerkte ich schockiert, dass ich vor mich hin grinste. Die Passagierin neben mir bemerkte das auch. Mit entsetztem Gesicht versuchte sie, das Geschehen auf dem Bildschirm meines Laptops mit meinem Grinsen in Einklang zu bringen. 

Ich bin sicher nicht die einzige, die wohlige Genugtuung empfindet, wenn ein sadistischer Prinz langsam und qualvoll erstickt. Oder dem unrechtmäßigen Anwärter auf den Thron, der seine Tochter aus Ritualgründen angezündet hat, der Kopf abgesäbelt wird. „Recht so!“, ruft da der schadenfrohe Zuschauer. Diese Reaktion ist nicht nur typisch für „Game of Thrones“: In jedem beliebigen Actionfilm vergnügt uns der Tod der Widersacher, in Soaps freuen wir uns, wenn die oberflächliche Zicke endlich sozialer Ächtung ausgesetzt wird.

Sobald der Abspann läuft, man langsam aus dem Bilder- und Gefühlsrausch erwacht, beginnt man jedoch, die eigene Menschlichkeit zu hinterfragen. Wenn meine Eltern mich so sähen, würden sie sich wundern, was für ein Kind sie da großgezogen haben? Früher hatte ich eine Zeitlang ernsthafte Gewissensbisse, wenn ich versehentlich auf ein Insekt getreten war. Bin ich jetzt doch ein schlechter Mensch, wenn ich mich am Leid anderer – so böse und fiktiv sie auch sein mögen – ergötze?

Mit Gewalt in den Medien und ihrer Wirkung auf den Zuschauer kennt sich Markus Appel aus. Er ist Psychologe und Professor für Medienkommunikation an der Universität Würzburg. Am Telefon beichte ich ihm meine sadistische Schadenfreude und frage, ob das noch normal ist.

„Wir teilen Figuren automatisch in Protagonisten und Antagonisten, in gut und böse, ein. Im Western war das früher besonders einfach: Der Gute hatte einen weißen, der Widersacher einen schwarzen Hut auf“, erklärt Appel. Grundlegend für unsere Gefühle beim Fernsehen sei also die Frage, wie sympathisch uns die Charaktere seien. Ganz so plakativ ist das heutzutage zwar nicht mehr, das Schema ist aber immer noch dasselbe – aus einem einfachen Grund: „Aus dem Konflikt zwischen Gut und Böse entsteht Spannung für die Zuschauer. Sie fiebern mit und hoffen, dass die Guten gewinnen“, sagt Appel.

 

Wir können also gar nicht anders, als mit denjenigen Figuren mitzufühlen, die uns als „die Guten“ vorgestellt werden. Grund dafür ist das Gerechtigkeitsgefühl, das jeder Mensch grundsätzlich in sich trägt. „Der Mensch glaubt an das Credo ‚Unrecht zahlt sich nicht aus’ – oder möchte zumindest daran glauben. Wenn er dieses Motto bestätigt sieht – etwa, wenn beim „Tatort“ die Ermittler den Verbrecher überwältigen – schmeichelt das unserem Gerechtigkeitsgefühl“, erläutert Appel. Wenn die Schuldigen aber davonkämen oder stattdessen gar eine unschuldige Person für die Tat büßen müsse, dann seien die Zuschauer oft sehr unzufrieden mit dem Ende. Es wühlt uns auf, wenn etwas nicht nach unseren Erwartungen, nicht vorhersehbar, abläuft. Aus Unordnung solle Ordnung werden – und nicht umgekehrt. Das klingt sehr deutsch, gilt aber bei fiktiven Geschichten für alle Nationalitäten.

 

Unser Weltbild besteht also darin, dass wir davon ausgehen, dass das Gute über das Böse triumphiert. Ganz schön naiv eigentlich. Ein Blick in die Realität und es ist klar, dass die Gegenbeispiele gehörig in der Überzahl sind. Trotzdem ist diese Naivität nichts Schlechtes, sagt Appel: „Durch dieses Weltbild glauben wir daran, dass gute Taten positive Konsequenzen haben, dass sich Höflichkeit und Hilfsbereitschaft auszahlen.“ Hätten wir kein positives Weltbild, hätten wir auch keinen Grund, nett zueinander zu sein.

 

Gewalt als Strafe für die Bösen wurde beim Geschichtenerzählen schon immer eingesetzt

 

Weil es uns das Bild der gerechten Welt so am Herzen liegt, wird es häufig in Serien und Filmen aufgegriffen. Die Wiederherstellung der Gerechtigkeit durch die gewalttätige Bestrafung der Antagonisten ist dabei kein Phänomen der Generation „Game of Thrones“. „In der Ur-Version von Schneewittchen muss die Stiefmutter am Ende in glühenden Schuhen tanzen bis sie tot umfällt. Gewalt als Strafe für die Bösen wurde beim Geschichtenerzählen schon immer eingesetzt“, sagt Appel.

 

Wir sind also nicht nur naiv, sondern auch noch brutal. Wird die Lieblingsfigur gequält, dann empfinden wir Mitgefühl. Ist der Antagonist das Opfer: Pure Schadenfreude. Ein Widerspruch in unserer Menschlichkeit? Nicht unbedingt, beruhigt mich Markus Appel.

 

„Viele Zuschauer können ja trotzdem nicht gut hinsehen, wenn gezeigt wird, wie eine Figur getötet wird, selbst wenn sie zu den Antagonisten zählt“, meint Appel. Außerdem sei die Freude über das Leid der Bösen eine Frage der Verhältnismäßigkeit. „Ramsey aus „Game of Thrones“ etwa fügt den guten Charakteren wiederholt Leid zu, bis er zur Rechenschaft gezogen wird. Sein Tod, so grausam er auch sein mag, wird im Vergleich dazu ziemlich kurz gezeigt. Deswegen würde ich auch nicht sagen, dass es unbedingt die Gewalt ist, die wir in diesem Zusammenhang anziehend finden. Sondern vielmehr der Sieg der Gerechtigkeit.“

 

Mir wird ab und zu auch flau, wenn ich mit allzu grafischer Gewalt konfrontiert werde. Auch wenn ich selten hinsehe: Die Tatsache, dass ein fiktiver Vollpfosten endlich bekommt, was er verdient, wirkt befriedigend genug – auch ohne optischen Reiz.

 

In eigenen Studien konnte Appel belegen, dass Menschen, die häufig fiktionale Serien und Filme sehen, einen starken Glauben an eine gerechte Welt an den Tag legen. Von Menschen, die häufig Nachrichten sehen, kann man das Gegenteil behaupten. „Die Nachrichten vermitteln kein Bild von einer gerechten Welt.“, erklärt Appel. „Vielleicht versuchen wir zuweilen dieses Defizit an Gerechtigkeit in der Realität durch Serien und Filme zu kompensieren, in der jede und jeder bekommt, was er oder sie verdient“.

 

Wenn es darum geht, der Ungerechtigkeit in der realen Welt für einen kurzen Moment zu entkommen, dann sind fiktive Serien für diesen Zweck auf jeden Fall gesünder als eine aus Frust geleerte Flasche Rotwein. Und wenn man sich dann darüber freut, dass in dieser fiktiven Welt die schlechten Menschen leiden, dann ist das ganz normal. Der Meinung wäre sicher auch meine Mitreisende gewesen, hätte sie die ganze Geschichte gekannt. Und die ist – wie im echten Leben – manchmal brutal.

 

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