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Was Fotos im Flirt-Chat bedeuten

Foto: David-W-/photocase.de

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Jeder, der schon mal per Chat geflirtet hat, kennt die große Freude und Aufregung in dem Moment, in dem auf dem Sperrbildschirm die Meldung aufploppt, dass jemand eine Nachricht geschickt hat, von dem man dringend viele Nachrichten bekommen möchte. Und wenn die Benachrichtigung „XY hat ein Foto gesendet“ lautet, tendieren Freude und Aufregung sogar eher in Richtung Herzstillstand. Bevor der Empfänger die Nachricht öffnet, hat er zweihundert Gedanken, was das wohl für ein Bild sein könnte: ein Natur-Schnappschuss vom Spaziergang? Ein lustiger Aufkleber auf einem Stromkasten?? Ein Selfie??? Oder am Ende sogar was mit Nacktgeschlechtsorganschlüpfrigkeit???? Und was wird drunter stehen? Nichts, was Eindeutiges, was Zweideutiges?

Chatten ist ja eh das neue Flirten. Menschen, die sich in einer Anbandelungs-Phase befinden, drücken das ja nicht nur so aus: „Es gibt da jemanden und ich glaube, das könnte was werden.“ Sondern auch so: „Wir schreiben uns.“ Das Sich-Schreiben ist der beste Indikator dafür, dass da was geht. Oder gehen könnte. Trotzdem wird auf beiden Seiten meist gezweifelt, weil keiner der beiden so recht mit der Sprache rausrücken und sagen will: „Ich find dich toll.“ Darum analysieren beide die Worte und Emojis des jeweils anderen, ziehen Freunde zu Rate („Meinst du ‚Bis bald‘ bedeutet, dass er mich treffen will?“, „Sie hat ein Küsschen-Emoji geschickt, das ist doch eindeutig, oder nicht?“) und wägen sehr genau ab, was sie selbst schreiben und schicken. Aber wer ein eindeutiges Zeichen setzen und die Distanz, die zwischen den Anbandelungs-Partnern noch besteht, in Rekordgeschwindigkeit überbrücken will, der schickt weder Worte noch Emojis – sondern Fotos.

Ein Foto zu verschicken oder noch mehr: Fotos zu bekommen, ist etwas sehr Intimes. Zumindest fühlt es sich so an. Im ersten Moment weiß man gar nicht so genau, warum eigentlich, wieso ein Kuss-Emoji nicht viel intimer ist. Aber wahrscheinlich ist es so, weil durch ein Foto plötzlich die Realität des anderen viel näher an einen herankommt. Statt Buchstaben oder vorgefertigten Emojis ist darauf etwas Individuelles, etwas Echtes (oder, bevor hier Medien- und Kommunikationswissenschaftler randalieren: das genaue Abbild von etwas Echtem) zu sehen. Ein Ort, an dem der andere Mensch war. Etwas, das er schön findet. Etwas, das er lustig findet. Ein Stückchen von ihm selbst eben. 

Während ein Bild, das jemand bei Instagram oder Facebook gepostet hat, für sehr viele Menschen bestimmt ist, ist diese Bild-Nachricht für einen ganz alleine. Der Mensch, der das Foto gemacht hat, hat das Motiv für einen ausgesucht, oder er hat es auf seinem Handy entdeckt und gedacht: „Das passt gut zu diesem anderen Menschen!“ Es steckt also mehr Denk-Leistung und Empathie dahinter als hinter einem Kuss-Emoji. Und auch etwas Verbindendes: Der Sender hat sich zwar gedacht, dass das Bild dem Empfänger gefallen und zu ihm passen könnte – aber außerdem gefällt es ihm ja auch selbst. Und wenn er recht behält und der andere es auch schön oder lustig findet, dann bringt das die beiden einander näher als jedes Herzchen-Emoji dieser Welt. So als hätte der eine dem anderen in einem lauten Raum voller Menschen ein kleines Geheimnis ins Ohr geflüstert und niemand sonst hat es gehört. Es gehört nur diesen beiden. Es ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass hier gerade Nähe, Vertrauen, Intimität entsteht.

Ein Selfie ist ein bisschen so, als würde der andere einfach unangekündigt vor einem stehen

Die Krönung dieser Foto-Intimität ist das Selfie. Es ist beinahe zu intim, denn es hat etwas von „Passfoto im Geldbeutel“. In einem Chat, in dem die Fronten zwischen den Chat-Partnern noch nicht eindeutig geklärt sind, ist das Selfie darum eine Grenzüberschreitung, die gut, aber auch in die Hose gehen kann (Penis- und andere Nackte-Körperteile-Fotos ignorieren wir jetzt einfach mal, weil die Grenzüberschreitung da zu eindeutig ist). Denn wer sich flirtend schreibt, der will ja vor allem eines erreichen: die Zeit überbrücken, bis man endlich traut, sich zu treffen. Ein plötzlich geschicktes Selfie ist ein bisschen so, als würde der andere einfach unangekündigt vor einem stehen. Das kann toll sein. Es kann aber auch übergriffig wirken. Beim anderen ein „So weit waren wir doch noch gar nicht“-Gefühl auslösen. Oder ihn unter Druck setzen: Wer ein Selfie geschickt bekommt, fühlt sich mitunter verpflichtet, wenn nicht sogar genötigt, eins zurück zu schicken – und jeder weiß, wie anstrengend es ist, ein Selfie zu machen, das man gut genug findet, um es jemanden zu schicken, den man beeindrucken will.

Bei all dem sind wir bisher immer davon ausgegangen, dass sich da zwei Menschen schreiben, die einander gut finden. Leider gibt es aber auch Chats, in der der eine den anderen sehr viel besser findet als andersherum. Flirt-Chats mit Schieflage. Die nur der eine überhaupt als Flirt-Chat begreift. Und der andere entweder als etwas anstrengenden, unkontrollierbaren Kontakt, den er eigentlich lieber wieder los wäre, oder als ganz normales Gespräch zwischen Bekannten. In diesen Fällen sorgt es für eine andere Art von Beinahe-Herzstillstand, wenn die „XY hat ein Foto gesendet“-Benachrichtigung aufploppt. 

Der Empfänger hat vermutlich die gleichen zweihundert Gedanken, wie wenn das Bild von jemandem kommt, vom dem man sich Bilder wünscht – nur fühlt er sich dabei ganz anders. Eher so bauchschmerzig. Und das Foto von diesem Menschen, dem man nicht nah sein will, dann öffnen zu müssen, das ist sehr unangenehm. Denn da ist trotzdem diese Intimität, dieses Stückchen vom anderen, das er einem hinhält und zeigt, diese „Ich nehme dich mit in meine Welt, du magst sie doch, oder?“-Geste. Aber man will das alles gar nicht. Es ist viel zu nah. Es ist, als sei der andere zum Sprechen zu dicht ans eigene Gesicht herangekommen. Man kann seinen Atem spüren (und im schlimmsten Fall: riechen). Man fühlt sich überrumpelt und bedrängt. Die Krönung ist auch hier wieder: das Selfie. Denn ein Selfie, diese eindeutige Geste der Zuneigung, von jemandem zu bekommen, zu dem man sich nicht hingezogen fühlt, das ist zum Schütteln. Man muss es eigentlich sofort löschen, weil es es Widerwillen auslöst, aber auch Mitleid und ein schlechtes Gewissen, weil man weiß, dass man den anderen wird enttäuschen müssen.

Darum schnell wieder an das positive Beispiel denken. An den guten Herzstillstand-Moment. An den Augenblick, in dem einer dem anderen ein Bild schickt und damit sagt: „Ich find dich toll.“ Ein Bild, das der andere ganz lange und ganz beseelt anschauen wird, nachdem er es bekommen hat. Und abends vorm Einschlafen auch noch mal. Und zwischendurch. Und ganz besonders oft und besonders beseelt natürlich, wenn es ein Selfie ist.

Und so sieht es aus, wenn Flirt-Chats analysiert werden:

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