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Alles schläft, einer wacht

Foto: to.E / photocase.com

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Es gibt in meinem Leben ein Gefühl, das ich niemals missen, aber auch nicht öfter als einmal im Quartal erleben möchte: Das Gefühl, vollkommen übernächtigt zu sein und nicht geschlafen zu haben. Das fühlt sich so an als habe man sich einen Overall aus Watte übergezogen, die Watte quillt durch die Ohren bis in den Kopf, und man ist gleichzeitig abgestumpft und sensibel, sehr euphorisch und unendlich knatschig. Das ist großartig. Genauso großartig ist das, was dem vorausgeht: Das Wachbleiben an sich, bis der nächste Tag einfach da ist.

Damit hier keine Verwechslung passiert: Ich meine nicht die durchfeierten Nächte, das Nachhausegehen, wenn es hell wird, und diese regungslosen Tage danach, an denen man auf dem Sofa oder in der Sonne sitzt, sich nicht bewegt, weil alles wehtut, und trotzdem sehr zufrieden ist. Dabei ist immer Alkohol im Spiel, ein mindesten mittelmäßiger Kater mit Kopfschmerzen, Heißhunger auf fettiges Essen und anlasslosen Schweißausbrüchen. Ich meine die nüchtern durchwachten Nächte, weil etwas erledigt oder erlebt werden will, für das man tagsüber keine Zeit gefunden hat oder das nur nachts verfügbar ist. Anlässe, um die Nacht durchzuwachen, sind zum Beispiel die US-Wahl, eine Serie, die einen so sehr fesselt, dass man nach vier Folgen nicht aufhören kann, irgendeine Art von Arbeit, die man unbedingt zu Ende bringen will, Sportereignisse auf anderen Kontinenten – oder, wie am kommenden Sonntag, die Oscar-Verleihung in Los Angeles. Ich habe die Oscars schon immer gerne angeschaut. Früher, weil ich irgendwelche Stars bewunderte. Heute, weil ich es mag, zu sehen, wie anderswo auf der Welt eine Gala gefeiert wird, während um mich herum tief und fest geschlafen wird und während auch ich eigentlich tief und fest schlafen sollte.

Als Kind fand ich es immer sehr aufregend, wenn ich länger aufbleiben dufte als gewöhnlich, weil Silvester oder ein besonderer Geburtstag eines Elternteils gefeiert wurde. Wenn irgendwann die Uhrzeit erreicht war, zu der man eigentlich ins Bett musste, war das, wie eine Grenze in eine neue Welt zu übertreten. So sahen die Menschen also nach 22 Uhr aus! Das war also der Teil des Lebens, von dem ich sonst ausgeschlossen war! Irgendwann überkam mich dann eine schreckliche Müdigkeit und ich wurde doch noch ins Bett gesteckt.

Im Prinzip ist das heute noch genauso. Mit dem Unterschied, dass man auch die zweite Grenze, die Müdigkeit, überschreiten kann. Wenn ich nicht unterwegs bin, ist unter der Woche gegen zwei und am Wochenende etwa um vier Uhr die erste Grenze erreicht, das Gefühl, dass ich spätestens jetzt eigentlich schlafen würde und müsste. Wenn ich dann trotzdem wach bleibe und irgendwann sehr müde werde, steckt mich keiner mehr ins Bett, außer mir selbst. Aber ich kann auch dagegen ankämpfen und die zwei Tiefpunkt-Stunden überstehen. Danach ist es, wie wenn man erstmal dreißig Bahnen geschwommen ist – im Prinzip kann man jetzt für immer weitermachen. Den müdesten Punkt überwinden bedeutet, zu müde zum Schlafen zu sein, und auf einmal fühlt sich alles ganz anders an. Die Oscars, die US-Wahl, die Serie oder die Arbeit, die noch fertig werden soll, sind auf einmal das Spannendste, Tollste, das Einzige auf der Welt. Wenn es irgendwann draußen langsam wieder hell wird, dann ist es, als sei der Morgen ganz alleine für mich da.

Neben dieser Euphorie ist da außerdem noch das Gefühl, etwas Verbotenes und Unvernünftiges zu tun, indem man einfach nicht schläft, obwohl man ja könnte, obwohl das Bett ganz nah und der Kopf ganz klar ist. Wenn die Sonne durchs Fenster scheint, ohne, dass ich in den Stunden, in denen sie nicht schien, die Augen geschlossen habe, kann ich beinahe hören, wie meine Mutter diesen leicht erschrockenen bis tadelnden Laut macht, den sie immer machte, wenn wir Kinder etwas Unerwünschtes getan hatten. Aber mehr passiert dann auch nicht. Freiwillig und völlig nüchtern nicht zu schlafen ist eine reingewaschene, ganz und gar harmlose Unvernünftigkeit. Weil man am nächsten Tag ja arbeiten muss, Sozialleben zu bewältigen oder Termine hat, aber leider ein ganz kleines bisschen nicht zurechnungsfähig ist. Gerade so viel, dass man noch alles schafft und dabei etwas überdreht ist.

Wenn Sonntagnacht die Oscarverleihung läuft, werde ich wie in jedem Jahr versuchen, sie anzuschauen und beide Grenzen zu überschreiten. Ich werde versuchen, wach zu bleiben. Vielleicht schaffe ich es. Vielleicht schlafe ich ein. Denn auch, weil es gar nicht so leicht ist, die ganze Nacht wach zu bleiben, wenn man nicht muss oder in Bewegung ist, ist es so besonders, wenn man es schafft. Wenn man dasitzt und es ganz still ist, nur der Fernseher oder der Computer flimmern und tönen, und man weiß: Alle hier schlafen nun. Aber man weiß auch: In Los Angeles sind alle wach. Irgendwo sind immer alle wach.

 

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