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Ist Amanda Knox eine Mörderin oder nicht?

Foto: Netflix

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Amanda Knox’ erstes Statement ist sehr, sehr stark. Sie sitzt mit verweinten Augen und in einem rosafarbenen Sweatshirt vor einer dunklen Wand und sagt, dass sie ein Albtraum ist. Für jeden. Weil sie entweder schuldig ist und damit eine besonders gefährliche, weil ungewöhnliche Täterin. Oder unschuldig, was bedeutet, dass jedem passieren kann, was ihr passiert ist. "Either I’m a psychopath in sheep’s clothing", sagt sie, "or I am you."

Es gibt diese beiden Interpretationen von Amandas Geschichte. Für die Dokumentation "Amanda Knox", die auf dem Toronto International Film Festival Premiere feierte und ab heute weltweit auf Netflix zu sehen ist, gab es darum neben dem offiziellen Trailer zwei weitere: den "Believe her"- und den "Suspect her"-Trailer. Wohl um zu sagen: Schau das an und entscheide dann: Hat diese Amerikanerin gemeinsam mit ihrem damaligen Freund am 2. November 2007 im italienischen Perugia die britische Austauschstudentin Meredith Kercher ermordet oder nicht? Ist sie wirklich "der Engel mit den Eisaugen" oder nicht?

Die Doku reiht sich damit in den aktuellen "True Crime"-Hype ein – ob "Serial", "The Jinx", "Making a Murderer" oder "The People v. O.J. Simpson", gerade werden besonders gerne wahre Kriminalfälle nacherzählt, oder vielmehr: auseinandergenommen und analysiert. "Amanda Knox" erzählt zum einen die typische Ermittlungs-Geschichte von unzuverlässigen Erinnerungen und Ungereimtheiten. Davon, wer wie wann welche Version erzählt und wer wen beschuldigt hat, um seine Haut zu retten. Aber eine gute "True Crime"-Doku hat immer noch eine weitere Ebene. Eine, die zeigt, welche gesellschaftlichen Mechanismen oder welche Fehler im Rechtssystem zur Eskalation geführt haben. In diesem Fall sieht man auf dieser Ebene: eine Frau gegen zwei männliche Egos. Und einen kleinen Kampf der Kulturen.

Der Film zeichnet die Ereignisse chronologisch nach, eine Zeitspanne, die fast acht Jahre umfasst – von Knox’ und Sollecitos Kennenlernen Ende Oktober 2007, über den Tag der Tat, die erste Verurteilung des Paares, den Freispruch und die erneute Verurteilung, bis hin zu deren endgültiger Aufhebung durch den obersten Gerichtshof im März 2015. Über eineinhalb Stunden sprechen fünf Personen vor der Kamera: Amanda Knox, ihr damaliger Freund Raffaele Sollecito, ein britischer Boulevard-Journalist, der für den Fall zuständige Staatsanwalt und der Verteidiger des schließlich für den Mord verurteilten Rudy Guede (der bis heute seine Unschuld beteuert). Dazwischen immer wieder Medien-Material und einige neu gedrehte, private Szenen mit den Protagonisten. 

Der Boulevard-Journalist kommt als aufmerksamkeitsgeiler Selbstdarsteller rüber

Das eine zu große geratene männliche Ego ist dabei der Boulevard-Journalist Nick Pisa, für den dieser Fall die Geschichte seines Lebens war. Pisa gelang es sehr schnell, nah an die Polizei in Perugia heranzukommen – und von da an diktierten seine Artikel für die "Daily Mail" die Geschichte für alle anderen Medien. Er macht aus Amanda Knox eine moderne Katharina Blum. Er stellte sie als Sexmonster und bestialische Mörderin dar.

In der Doku kommt er als aufmerksamkeitsgeiler Selbstdarsteller rüber: Er erzählt frei heraus, wie "fantastisch" das Gefühl sei, den eigenen Namen auf der Titelseite der Zeitung zu sehen. Dass man sich die Story nicht besser hätte wünschen, dass sie "perfekt" gewesen sei und "ideal". Er berichtet, wie er das Internet nach anzüglichen Fotos von Amanda durchsuchte, wie er auf ihren Nicknamen „Foxy Knoxy“ stieß und ihn übernahm. Wie sich die Öffentlichkeit überhaupt nicht für den schließlich Verurteilten Rudy Guede interessierte und er deswegen auch nicht über ihn schrieb. Und dass die Version, in der Amanda Meredith ermordet hat, ein "Girl on Girl"-Crime sei, und eben einfach die bessere Geschichte. Trotzdem wehrt er den Vorwurf ab, dass die Medien den Fall in eine bestimmte Richtung gelenkt haben: "Das glaube ich nicht", sagt er, und: "Ich bin Journalist, ich berichte nur, was man mir sagt."

Das andere männliche Ego ist der Staatsanwalt Giuliano Mignini – für den dieser Fall ebenfalls der Fall seines Lebens gewesen zu sein scheint. Auf der Straße, sagt er, habe man ihn zu seiner guten Arbeit sogar gratuliert. Er nennt sich selbst einen gläubigen Katholiken und außerdem einen "Fan von Sherlock Holmes", und stellt sich als Ermittler dar, der kriminalistische Details entdeckt, die anderen entgehen. Der seinem Täter (oder seiner Täterin) in die Seele blickt. Anders ist nicht zu erklären, wieso er Thesen wie diese als Indizien anführt: "Die Leiche war zugedeckt. Eine Frau, die jemanden umgebracht hat, deckt die Leiche zu. Ein Mann würde das niemals tun." Und wieso er jede von Amandas Regungen beobachtet, wie sie wann schaut und wie sie sich bewegt.

Zwischen dem alten, italienischen Staatsanwalt und der jungen Amerikanerin herrscht absolutes Unverständnis

Es ist fast unmöglich, hier nicht zu sehen, wie beide Männer von einem bestimmten Frauenbild getrieben werden. Der Journalist nutzt aus, dass Amanda Knox hübsch und unschuldig aussieht, um hinter diese angebliche Fassade blicken und ein sexbesessenes Monster enthüllen zu können. Und zwischen dem alten, erzkonservativen Staatsanwalt aus der italienischen Kleinstadt und der jungen, hedonistischen Amerikanerin aus Seattle herrscht das absolute Unverständnis. Mignini scheint gar nicht anders zu können, als in ihrer Lebensweise das absolute Böse zu sehen. Woraus dann der Vorwurf erwachsen konnte, Kercher sei Opfer eines "satanischen Ritus" geworden, wie es in der ersten Anklageschrift hieß.

Aus "eine Frau gegen zwei männliche Egos" entstand so am Ende "Amanda Knox gegen die Medien". Und die USA gegen Italien. In Form der Angeklagten und des Staatsanwalts – und schließlich sogar im größeren Rahmen, als das Urteil aufgehoben wurde und die Amerikaner den Italienern Schwächen in ihrer Justiz vorwarfen (sogar eine Szene aus einem Interview mit Donald Trump taucht in der Doku auf: Er sagt, der Präsident müsse sich in den Fall einschalten). 

Wenn man es genau nimmt, wecken die zwei Trailer der Doku darum falsche Erwartungen. Viel Entscheidungsspielraum ist da nicht, zu sehr wirkt Amanda Knox, als sei sie im Strom der Ereignisse, der von Medien und Justiz gelenkt wurde, mitgerissen worden. Trotzdem klagt sie Mignini oder Pisa kein einziges Mal an, sondern erzählt einfach nur ihre Geschichte. Es gibt auch keinen Sprecher, nur die Stimmen der Protagonisten. Die Doku gibt einem so das Gefühl, dass sie neutral ist. 

Aber ist sie das wirklich? Denn immerhin ist da die Musik, klassisch und tragisch. Und da ist dieser eine stilistische Kniff: Wenn Amanda und Raffaele dasitzen und starr in die Kamera blicken, als habe Andy Warhol sie zu einem seiner Screentests eingeladen – und man als Voiceover Mignini oder Pisa hört, wie sie über die beiden urteilen. Sie wirken dann schutzlos. Einsam. Wehrlos.

Und da ist auch noch die Tatsache, dass Amanda Knox trotz allem eine sehr starke Persönlichkeit ist. Sie hat Charisma. Und sie kann gut reden. Das beweist ihr Eingangsstatement. Oder das, was sie zu dem Titel sagt, den man ihr gegeben hat: „Der Engel mit den Eisaugen“. „These are just my eyes“, sagt sie. „They are no objective evidence.“ Und egal, ob schuldig oder unschuldig: Damit hat sie vollkommen Recht.

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