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Warum Martin Schulz mich traurig macht

Foto: Sascha Schuermann / Getty Images, Bearbeitung: Daniela Rudolf

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Als ich noch sehr klein war, bekamen meine Schwester und ich an einer Autobahnraststätte zu unserer Portion Pommes Schranke eine Packung Buntstifte serviert, bedruckt mit dem Maskottchen der Autobahnraststätten-Kette, einem sehr liebevoll dreinblickenden Clown mit roten Haarkranz. Die Sprechblase neben ihm sagte: „Tolle Buntstifte für dich!“ Und da meine Schwester und ich noch nicht zwischen echter Zuwendung und einem tausendfach produzierten Marketingartikel unterscheiden konnten, waren wir sehr gerührt. Was für ein netter Clown! Für uns!

Und irgendwann auf der Autobahn, es muss wohl am Gemisch aus Abgasen, Hitze und einer latenten Post-Urlaubsdepression gelegen haben, kam unseren Kinderhirnen der Gedanke, wie es wohl wäre, wenn man vor den Augen des Clowns die eben geschenkten Buntstifte zerbräche und auf den Boden werfen würde. Mit einem diabolischen Lachen. Wir waren uns absolut einig: Es wäre SO traurig! Die zerbrochenen Stifte, der Blick des Clowns! „Oh Mann!“ sagten wir sehr oft, und zwar ein solches „Oh Mann“, bei dem man den Kopf schieflegt, den Clown anschaut und das „Maaaann“ etwa drei Sekunden lang ist. Ich glaube sogar, wir haben dabei ein bisschen geweint.

Gestern habe ich die Augen des Clowns wiedergesehen. Auf einem Wahlplakat. Das Gefühl war das absolut gleiche, nur war der Haarkranz diesmal grau und gehörte: Martin Schulz. Gegenüber meiner Bushaltestelle lächelte er mich gutherzig an, versprach mir mehr Gerechtigkeit. Neue Ideen, die er durchsetzen würde. Ich las nur „Tolle Buntstifte für dich!“. Und sah das Flehen in seinen Augen.

Ich verfiel in eine aufrichtige Schwermut.

Und das, obwohl ich mittlerweile Wahlwerbung mit worthülsigen Null-Versprechen von echter politischer Zuwendung unterscheiden kann. Und obwohl der SPD meiner Meinung nach ein frischeres Gesicht inklusive einer Besinnung auf den sozialdemokratischen Kern und die tatsächlichen Ungerechtigkeiten in unserer Post-Agenda-2010-Gesellschaft besser getan hätte, als Schwänke aus Würselen und Schulterklopfen mit Merkel im TV-Duell.

Denn nimmt man nämlich mal die ganze große Politik beiseite, die Kritik an Schulz und der SPD und den Zustand unserer verpennten, alternativlos marktkonformen Geht-doch-allen-super-Demokratie, in der - hoppla - nun wieder Rechtsradikale im Parlament sitzen dürfen, liegt in der Geschichte von Martin Schulz eben doch eine tief berührende Anti-Heldensaga.

Und zwar von einem, der in aussichtsloser Ausgangslage mit freundlicher, optimistischer Miene auszog, um Buntstifte zu verschenken, äh, Bundeskanzler zu werden. Und der dafür zunächst monatelang abgefeiert wurde, von Schulzzug-Jusos, den Medien, der Meinungsforschung. Der sich anfangs wohl selbst noch zwingen musste, öffentlich „Ich werde Kanzler!“ zu sagen, es dann aber berauscht vom Umfrage-High plötzlich aus echter Überzeugung hinausschreien konnte. Der anfing, ernsthaft an all das zu glauben, was die Kandidaten vor ihm immer nur simulieren konnten: An eine echte Wechselstimming im Land, mehr als ein kurzes Meme-Gewitter, trotz jahrelanger Zusammenarbeit mit Merkel, die man in seiner Wahrnehmung besiegen konnte, ohne überhaupt anzugreifen. Vielleicht war es dann sogar echte Schüchternheit, die ihn mit seiner Kritik bis zur Elefantenrunde abwarten ließ, wo sie dann mindestens beleidigt, wenn nicht sogar ein bisschen irre wirkte. 

Ich stellte mir vor, wie Schulz in den letzten Wochen des Wahlkampfes jeden Morgen mit dem Gedanken „Du wirst nicht Kanzler“ aufwachte. Nur um dann wieder sein Zwangsoptimismus-Gesicht aufzusetzen, einen nunmehr paradoxen Siegeswillen zu schauspielern, schlechte Witze über die Instagram-Jugend in Kameras zu sprechen, nach dem vergeigten Duell Bittsteller-Briefe an Merkel zu schicken. Und sich für all das von der gleichen Öffentlichkeit seine Wahlkampf-Buntstifte zertreten zu lassen, die ihn eben noch in den Himmel gehoben hatte.

Und gerade diese Vorstellung der letzten Wochen, in denen sich das Licht am Ende des Schulzzug-Tunnels längst als still dahinzockelnde, aber eben doch alles überrollende Merkel-Lok erwiesen hatte, die vielen Momente, in denen man diese Gewissheit bereits in Schulz' Augen abzulesen glaubte, erzeugten in mir beim Anblick des Plakates  an der Haltestelle ein Gefühl, das sich weder mit „Mitleid“ noch seinem gehässigen Stiefbruder „Fremdscham“ beschreiben lässt.

„Oh Mann, Martin!“ sagte ich zu Plakat-Schulz. Dann kam der Bus.

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