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"Ich will jeden Tag laut schreien: Hallo, ich existiere!"

Foto: Yasin Akgul, AFP

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In Deutschland beschließt der Bundestag die "Ehe für alle", in der Türkei wurde hingegen vergangenen Sonntag zum dritten Mal in Folge die Gay Pride Istanbul auf der İstiklal, Istanbuls bekanntester Einkaufsstraße, verboten. Offiziell „aus Sicherheitsgründen“.  Noch im Jahr 2013 waren bei der Parade 100.000 Menschen mitgelaufen, es handelte sich um die größte Veranstaltung dieser Art in der Türkei und Osteuropa.

Die Veranstalter des Gay Pride vermuten hinter dem Verbot eine gezielte Diskriminierung von LGBTQ und befürchten weitere Eingriffe in die Rechte der Menschen in der Türkei. Deshalb riefen die Veranstalter am Sonntag dazu auf, trotz des offiziellen Verbotes demonstrieren zu gehen.

Wir beauftragten daraufhin den britischen Fotojournalisten Bradley Secker, für jetzt Bilder und Protokolle vom verbotenen Protest zu machen. Am Sonntagabend schrieb er uns, dass das leider unmöglich sei, die Polizei habe den Platz großflächig geräumt, offiziell wurden 20 Menschen festgenommen, die Polizei schoss mit Gummigeschossen auf Demonstranten. Bradley versuchte, Pride-Aktivisten abseits der Parade zu fotografieren und zu interviewen. Um diese Menschen zu schützen, haben wir uns entschiedenen, lediglich die Protokolle ohne Fotos zu veröffentlichen.

 

„Ich warte täglich auf einen besseren Tag, aber er kommt einfach nicht“

Mehmet, 26, Koordinator von SPoD, einem türkischen LGBTQ-Verein, und Mitorganisator der abgesagten Parade

„Ich bin ein schwuler Aktivist. Die Organisation, für die ich arbeite, setzt sich dafür ein, dass LGBTQ-Personen sich überall frei bewegen können und nicht nur an Szene-Orten. Mein Engagement macht mich aber auch sehr sichtbar und verwundbarer für Attacken, manche nennen mich sogar einen 'Terroristen'. Unsere Arbeit findet also unter großen Widerständen statt. Trotzdem glauben wir langfristig an eine bessere Zukunft.

Die Absage der Parade von Seiten der Bezirksregierung war ein Akt gegen unsere Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit. Sie verletzt unsere von der Verfassung garantierten Menschenrechte, da bin ich mir sicher. Und die Regierung kann uns nicht dazu zwingen, auf diese Rechte zu verzichten. Deshalb wollten wir vergangenen Sonntag trotzdem marschieren oder zumindest unser Pressestatement vorlesen. Der Istanbuler Pride March war stets friedlich und ist ein wichtiges Zeichen für die Wertschätzung der LGBTQ-Community in der Türkei und im Nahen Osten. Und auch der Pride March in Paris nach den Anschlägen hat gezeigt, dass dies auch in Zeiten eines Ausnahmezustandes so bleibt.

Trotzdem hat die Polizei unseren Protest brutal mit Tränengas und Plastikpatronen gestoppt. Wir sind dann dazu übergegangen, anstatt eines großen Marsches kleinere Kundgebungen am Taksim-Platz abzuhalten, um unsere Teilnehmer zu schützen.

Ich will mittlerweile jeden Tag laut rausschreien: Hallo, ich existiere! Ich bin hier, ich lebe gemeinsam mit anderen in dieser Gesellschaft! Aber ich habe das Gefühl, dass mir nur wenige Menschen zuhören. Die Gesellschaft ist in der Türkei mittlerweile so stark gespalten, ich finde mich auf keiner Seite wieder. Deshalb bin ich auch sehr besorgt um meine psychische und körperliche Gesundheit. Ich warte täglich auf einen besseren Tag, aber er kommt einfach nicht. Das ist nicht nur für mich, sondern für meine ganze Generation demotivierend. Zwar gibt es viele junge Menschen, die mutig sind und sich öffentlich für LGBTQ-Personen einsetzen, auch, wenn sie keine Aktivisten sind. Aber die Reaktion der Behörden auf diese Menschen ist nicht gerade förderlich, damit sie sich weiter engagieren.“

„Die LGBTQ-Community wird immer stärker kriminalisiert“

 

Lara, 26, aus Istanbul:

„In Zeiten von Unterdrückung ist es besonders wichtig, dass wir von der LGBTQ-Community sichtbar bleiben. Zeigen, dass wir trotzdem weiterhin existieren. Ansonsten wirkt es so, als würden wir nachgeben. Dabei ist es eigentlich unser von der Verfassung zugesichertes Recht, uns zu organisieren und zu demonstrieren.

 

Natürlich hat sich das alles seit dem Putschversuch vergangenen Sommer verändert. Sie benutzen jetzt religiöse und nationalistische Gründe, um uns zu bedrohen und unsichtbar zu machen. Dieses ständige Gefühl, nicht willkommen zu sein, macht müde und es ist schwer, motiviert zu bleiben. Aber ich versuche, die Hoffnung nicht zu verlieren. Zum Beispiel, indem ich mich mit vielen Leuten treffe, die unsere Anliegen unterstützen. Dass auch Menschen aus anderen Städten und Ländern uns beistehen, hilft dabei sehr.

 

Für die Zukunft wünsche ich mir, dass auch in der Türkei Hass-Verbrechen strafrechtlich verfolgt werden. Als bisexuelle Frau, aber auch als jemand, der sich für die Rechte von LGBTQ-Personen einsetzt, würde ich mich so in diesem Land sehr viel sicherer fühlen. Allerdings befürchte ich momentan, wo sie unseren Marsch bereits zum dritten Mal verboten haben, dass es zukünftig eher in die gegenteilige Richtung geht: Die LGBTQ-Community wird immer stärker kriminalisiert.“

 

„Gewöhnt euch an uns, wir gehen hier nicht weg“

 

Ozge, 37, aus Istanbul

 

„Wir wissen, dass sie die Parade nicht aus Sicherheitsgründen verboten haben oder weil sie 'sensible und ernsthafte Reaktionen aus der Gesellschaft' befürchten. Sie haben einfach eine LGBTQ-Phobie. Ich war auch schon bei der Parade zum Weltfrauentag am 8. März dabei, das war genau so ein friedliches Event wie der Gay Pride, das wissen auch die Behörden. Außerdem kann die Polizei ja selbst entscheiden, wen sie am Tag der Parade auf die İstiklal lässt. Fakt ist aber, dass weder sie noch die Regierung irgendetwas tun wollten, um uns zu schützen.

 

Trotzdem war es wichtig, das Verbot zu ignorieren. Wir müssen sagen: 'Gewöhnt euch an uns, wir gehen hier nicht weg.' In diesen Zeiten als LGBTQ-Person offen auf die Straße zu gehen, ist an sich schon ein Protest. Die İstiklal ist dabei ein besonders wichtiger Ort. Hier sind unsere Bars, Vereine und Partys, hier halten wir seit immerhin bereits zwölf Jahren unseren Marsch ab, auch wenn er jetzt dreimal verboten wurde. In anderen Städten in der Türkei findet das Event allerdings trotzdem weiter statt und auch hier wird es weiterhin Pride-Events geben. Das macht mich stolz und gibt mir Hoffnung.

 

Derzeit leben wir in der Türkei in einem Ausnahmezustand. Das bedeutet, unsere Zivilrechte, unsere Freiheit, das Recht, sich frei zu äußern, werden eingeschränkt. Allerdings hält dieser Ausnahmezustand aus meiner Sicht bereits seit mehr als zehn Jahren an. Auch ich habe Angst, meine Gedanken offen auszusprechen, weil ich befürchte, dann meinen Job zu verlieren. Die wirtschaftliche Lage der Türkei ist derzeit eh schlecht und die Regierung tut nichts, um den Leuten zu helfen, die sich für LGBTQ engagieren. Aber unsere Bewegung ist stark, auch hier in der Türkei und deshalb fühle ich mich auch sicher dabei, mich weiter für das Thema einzusetzen.“

 

„Ich hoffe, dass der Bezirksregierung kommendes Jahr die religiösen Vorwände für ein Verbot ausgehen“

 

Sal, 31, ursprünglich aus Syrien

 

„Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Je stärker Grundrechte verletzt werden, umso wichtiger ist es, dagegen zu protestieren. Darauf zu insistieren, dass die Pride Parade stattfindet, setzt dabei nicht nur ein Zeichen für die LGBTQ-Community. Es weist auch daraufhin, dass unsere gesellschaftliche Vielfalt immer stärker bedroht wird.

 

Für mich fühlt es sich gut an, hier in der Türkei miterleben zu können, wie junge Menschen auf ihre Rechte beharren und trotz großer Polizeipräsenz versuchen, zu demonstrieren. Gleichzeitig ist es traurig zu erleben, wie immer mehr Gewalt eingesetzt wird, um das zu verhindern.

 

Die Parade fiel in den letzten drei Jahren immer in die Fastenzeit, dieses Jahr fiel sie mit dem Fastenbrechen zusammen und wurde deshalb auch verboten, weil sie angeblich „respektlos“ gegenüber religiösen Menschen sei. Ich hoffe, dass der Bezirksregierung kommendes Jahr die religiösen Vorwände für ein Verbot ausgehen. Denn eigentlich geht es bei der Parade doch nicht um Religion oder Ideologien, sondern genau um das Gegenteil: um Freiheit und persönliche Rechte.“

 

 

Diese Protokolle wurden von Charlotte Haunhorst übersetzt. 

 

 

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