Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

In Berlin tritt erstmals die Hip-Hop-Partei "Die Urbane" zur Wahl an

Foto: Serious und Kooné

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Zu Beginn des Jahres ging es Raphael Hillebrand (35) wie vielen jungen

Menschen in unserer doch etwas einschläfernden Konsensrepublik: Er wusste nicht mehr, was er wählen sollte. Doch anstatt zum Nichtwähler zu mutieren, ging Raphael einen ziemlich untypischen, aber durchaus konsequenten Weg: Er beschloss, eine eigene Partei zu gründen. Und weil er in seiner 15-jährigen Tänzerkarriere als Choreograph immer wieder gemerkt hatte, wie sehr die Hip-Hop-Kultur Menschen unterschiedlichster Nationen und Hintergründe bei Jams, Battles und im Tanzstudio auf friedliche Art zusammenbringt, war auch bald die Stoßrichtung klar: eine Partei, inspiriert vom Gründungsmythos des Hip-Hop im New York der Siebziger Jahre, als junge Menschen sich mit kreativen Mitteln aus der Perspektivlosigkeit und Kriminalität malten, rappten, tanzten und der Gang-Gewalt eine friedliche Kultur entgegensetzten.

Ein halbes Jahr später haben Raphael und seine Mitsteiter es geschafft: „Die Urbane - eine Hip-Hop-Partei“ steht nun auf dem Wahlzettel zur Bundestagswahl im kommenden September, zumindest im Raum Berlin. Dort haben wir ihn im Gleisdreieckpark getroffen, dessen Skatepark Schauplatz vieler seiner Parteiveranstaltungen ist und für ihn sinnbildlich für einen demokratischen, von den Bürgern selbst zurückeroberten und gestalteten Raum steht.

jetzt: Raphael, haben junge Leute diesen oft zitierten Gründungsmythos des Hip-Hop überhaupt auf dem Schirm?

Raphael Hillebrand: Das glaube ich nicht, natürlich denkt man da erst mal an kommerzialisierten Hip-Hop, Bling Bling, dicke Autos - das ist wesentlich präsenter als diese emanzipatorisch-politischen Anfänge. Deswegen muss man davon aber vielleicht auch immer wieder erzählen. Es gibt ein Buch von Gabriele Klein, einer Hamburger Soziologin, namens „Is this real“, in dem es auch um diese Anfänge geht. Als ich das gelesen habe, habe ich gemerkt „nach diesen Regeln habe ich implizit immer gelebt“, obwohl mir diese Ur-Prinzipien des Hip-Hop im Detail auch nicht so bewusst gewesen waren.

Die Bronx und die Siebziger sind ja recht weit weg vom aktuellen politischen Geschehen. Worin besteht für dich bei Hip-Hop der Bezug zur Gegenwart und zu Deutschland?

Die Grundidee ist ja die: Leute, die am Rand der Gesellschaft stehen, Minderheiten aus ärmeren Bezirken, denen man nichts zutraut, die machen plötzlich was! Und revolutionieren jegliches Kunstgenre auf der Welt! Also Tanz, Musik, Malerei. Und das ohne irgendeine schulische oder akademische Ausbildung in der Richtung. Die haben der Welt gezeigt: Wir können etwas, wir haben einen Wert und wir gehören dazu. Diese Demokratisierung von Kunst auf die Demokratie selbst anzuwenden, das wäre doch super. Und das verstehen die Leute heute ebenso wie damals, glaube ich.

„Ich habe bestimmt nie mehr als 20 Unterschriften an einem Tag zusammen bekommen“

In nur ein paar Monaten habt ihr es geschafft, als legitime Partei zur Bundestagswahl anzutreten, zumindest in Berlin. Ist es so leicht, eine Partei zu gründen?

2000 Unterschriften, ein paar Vorstände wählen, schnell ein Programm schreiben - ich habe mir das auch recht einfach vorgestellt. Ich dachte,  ich erzähle bei meinen Tanzauftritten auf der Bühne ein bisschen was zur Partei, lege die Formulare am Ausgang aus, und bei 600 Zuschauern unterschreiben locker 200.

In Wirklichkeit war es anders: Ich habe bestimmt nie mehr als 20 Unterschriften an einem Tag gesammelt. Wir standen hier im Park an der Ecke mit einem Ghettoblaster und haben gesagt: „Schönen guten Tag, wir haben eine Partei gegründet!“ Das hat die Leute durchaus interessiert, aber dann sehen die dieses Riesenformular, das schreckt sofort ab. Da ist der Bundesadler drauf, du musst Namen, Adresse hergeben, damit geht man dann zur Meldestelle und muss prüfen, ob derjenige Wahlrecht hat. Bei solchem Kram bekommen die Leute natürlich sofort Angst und denken, sie werden ausgeleuchtet oder unterschreiben gerade einen Mitgliedsvertrag. Wenn die einen nicht persönlich kannten, war es sehr schwer, sie zum Unterschreiben zu bewegen.

Wie ging es dann weiter?

Wir haben 11,7 Kilo Unterschriften abgegeben. Die Formulare sind keine Listen sondern 2000 einzelne DinA4-Blätter. Ich habe in letzter Zeit bestimmt acht Stunden am Tag dafür investiert, am Ende hat es mit 2177 Unterschriften knapp gereicht.

Wie groß ist eure Partei mittlerweile?

Unser enger Kreis sind zehn bis 15 Leute, bestehend aus Vorstand und Vorstandsnahen. Dazu haben wir 150 Mitglieder, von denen viele zu unseren Treffen kommen und sich zu bestimmten Themen einbringen. Aber auch mit „nur“ 15 Leuten eine Sache zu diskutieren ist schon sehr zeitintensiv: Bis jeder mal dran war, ist eine Viertelstunde rum. Wir wollen natürlich dieses Ideal von Mitsprache und flachen Hierarchien beibehalten, leicht ist es aber nicht. Und vor allem nicht schnell.

War es schwierig, ein Wahlprogramm zu verfassen? Unter Hip-Hop im politischen Sinn versteht sicher nicht jeder das Gleiche, oder?

Die ganze Gruppendynamik zu organisieren war sehr schwer. Wir sind ja keine monothematische Initiative gegen irgendwas, zum Beispiel hohe Mieten, das hätte das Verfassen eines Programms natürlich total einfach gemacht. Wir sagen aber: Wir wollen aus den Grundlagen, die uns kulturell gegeben sind, politische Standpunkte erarbeiten. Hip-Hop ist sozusagen unser Werte-Anker. Aber damit auf  auf gemeinsame Standpunkte zu kommen, ist viel Arbeit. Da sagt der eine: Der Klimawandel überschattet alles, wir müssen an den Planeten denken. Und der andere: Was hat das mit Hip-Hop zu tun? Rassismus ist ja wohl unser Thema schlechthin. So ging das lange hin und her.

Letztendlich habt ihr ein verhältnismäßig kurzes Programm geschrieben, das trotzdem recht viele Themen von Klimawandel bis Nato-Ausstieg abdeckt. Gab es auch Themen, die ihr nicht aufgenommen habt, weil es noch an einem klaren Standpunkt oder an Expertise fehlt?

Wir haben keinen Wirtschaftsteil, keiner von uns ist da Spezialist, wir erleben Wirtschaft aber aus der Perspektive des Bürgers und des Konsumenten. Gesellschaftsmodelle betreffen natürlich auch Wirtschaftsthemen. Ansonsten haben wir versucht, uns so breit wie möglich aufzustellen. Wir wollen zeigen, dass wir es ernst meinen und uns auch Gedanken zu den großen Themen gemacht haben.

Thematisch steht ihr deutlich links. Wie grenzt ihr euch von Die Linke oder auch den Grünen ab?

Fangen wir bei den Grünen an. Wir sagen: Krieg bedeutet, dass alle verlieren, wir wollen keine bewaffneten deutschen Soldaten außerhalb der deutschen Grenzen - da haben wir schon einen Gegensatz. Zur Linken: Inhaltlich gibt es da ganz viele Themen, bei denen wir uns in unserer Meinung decken. Aber die Mitglieder bei den Linken kommen offensichtlich rein kulturell aus einer anderen Ecke und teilen nicht unseren Erfahrungshorizont. Die Linke hat zum Beispiel nicht die unmittelbare Perspektive auf Migration und multikulturelles Zusammenleben wie wir, für die solche Themen immer Normalität waren und sind. Es sind also unser eigener kultureller Background und auch unsere eigenen Migrationsgeschichten, die uns von der Linken abheben.

„Ich kann jedem in drei Minuten erklären, was Hip-Hop bei uns bedeutet, auch einem 50-Jährigen“

Mal abgesehen von den großen Themen: Die hip-hop-nahen“​ Themen stehen bei euch aber schon besonders im Fokus, oder?

Unsere Prioritäten liegen im Kultur- und Bildungsbereich. Dazu, wie viel unsere Gesellschaft für Bildung und Kultur ausgibt, wie man die anders organisieren kann, wie Leute ihre Stadt als Raum für Kreativität begreifen, haben wir aufgrund unserer Erfahrungen in der Hip-Hop-Kultur viel zu sagen und beizutragen.

Wäre es dann nicht  konkreter, sich  „Partei für alternative Kultur und urbane Kreativität“ zu nennen?

Hip-Hop ist unser Alleinstellungsmerkmal, deswegen steht es bei uns im Namen. Ich kann jedem in drei Minuten erklären, was Hip-Hop bei uns bedeutet, auch einem 50-Jährigen. Die CDU bräuchte da sicher länger um mir zu erklären, was an ihnen noch christlich ist. Und ich würde es trotzdem nicht verstehen. Eine Partei braucht eine Verankerung. Und ich glaube, wenn diese Verankerung eine kulturelle ist, ist das viel stärker, als wenn man sich ein Wort oder einzelnes Thema rausnimmt, wie zum Beispiel „Friedenspartei“ oder „Partei der solidarischen Mitte“​... die ruft nämlich auch keiner an und will mit denen ein Interview machen!

Ist Hip-Hop bei euch also auch ein PR-Faktor?

Wir tragen das im Namen und schämen uns nicht dafür. Wir müssen aber auch beweisen, dass das mit Hip-Hop mehr als ein Gag von uns ist. Dass die Menschen, die diesen Lebensstil leben, der Gesellschaft durchaus Inhalte mitzuteilen haben. Darauf muss man die Öffentlichkeit erst einmal stoßen. Wenn ich sage: Ich gehe seit 20 Jahren in einem Raum trainieren mit Flüchtlingen, Israelis, Palästinensern - und wir bringen uns gegenseitig tanzen bei - ohne Aufsicht, ohne Hierarchie, viele von uns sind heute Profis, international gefragte Repräsentanten dieses Landes! Das ist doch eine Perspektive!

Hattest du sofort Mitstreiter?

Das ist ein halbes Jahr lang so in meinem Kopf hin und hergeschwirrt und dann um Weihnachten rum hatte ich Zeit, mein erstes Infoblatt zu schreiben mit ein paar politische Ideen von mir, der Aufruf zur Parteigründung. Den habe ich dann auf Facebook gepostet - relativ erfolgreich. Beim ersten Treffen kamen 25 Leute. Das urprüngliche Ziel war: 0,5 Prozent der Stimmen, das bedeutet staatliche Förderung für die nächsten Jahre.  Wir könnten dann Räume mieten, ein Büro aufmachen.

Wollt ihr erst mal in Berlin eine Art Exempel statuieren? Oder denkt ihr auch bundespolitisch?

Unsere erste Veranstaltung war hier. Viele von uns leben hier. Gleichzeitig haben wir schon weitere Landesverbände, finden in der bundesweiten Presse statt und treten zur Bundestagswahl an. Natürlich sind wir lokal verwurzelt und könnten uns auch nur für ein paar Straßenblocks einsetzen, Kulturzentren vor Ort erhalten und sowas, weil die Bundespolitik ja unerreichbar und -veränderbar scheint. Aber ich glaube eben schon, dass auch bundespolitisch Veränderungen möglich sind. Beim Unterschriftensammeln haben mich viele gefragt „weißt du denn nicht, dass hier die großen Konzerne das Sagen haben?“  und mich für naiv befunden. Ich bin aber noch nicht bereit mich damit abzufinden, das unsere Demokratie nicht funktioniert. Ich will es erst einmal probieren!

Ist eure Partei auch eine Antwort auf die das Erstarken von Rechts, eine Reaktion auf AfD und Co?

Ja, ich spüre schon auch, dass da ein anderes Klima herrscht seit ein paar Jahren. Ich habe zu Christi Himmelfahrt mit meiner Frau und ein paar Freunden einen Ausflug nach Caputh gemacht, eine Gemeinde südlich von Berlin, wo ich mir das Einsteinhaus anschauen wollte. Allein an diesem einen Tag wurde ich drei Mal rassistisch angepöbelt, da gab es „Sieg Heil“-Rufe im Biergarten, oder „der Führer hätte sowas wie euch abgeführt“-Sprüche. Für die anderen Biergäste und Passanten schien das normal zu sein, Vatertag eben. Und Parteien, die es mit Menschenrechten oder der Meinungs- und Religionsfreiheit nicht mehr so wirklich ernst meinen, gewinnen plötzlich an Aufwind. All das schockiert mich und motiviert natürlich, etwas Positives entgegenzusetzen.

Und euer Ziel von 0,5%, werdet ihr das erreichen?

Für die kommende Wahl ist das leider nicht ganz realistisch, dazu müssten wir hier in Berlin zehn Prozent der Stimmen holen.  Frithjof Zerger steigt  um das Mandat für Kreuzberg/Friedrichshain für uns in den Ring. Das ist eine echte Chance. Außerdem sind unsere Ziele für diese Wahl: Teilnehmen, Debatten anstoßen und das öffentliche Bewusstsein verändern. Da sind wir schon dabei. Und in zwei Jahren ist ja Europawahl.

Mehr Hip-Hop:

  • teilen
  • schließen