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Ein Liebesbrief an Niedersachsen

Illustration: Daniela Rudolf

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Liebes Niedersachsen,

heute ist ein Tag, an dem du ausnahmsweise mal in den Medien bist. Heute ist deine Landtagswahl, die erste nach einer Bundestagswahl, bei der ein Achtel der Teilnehmer rechts gewählt hat. Das scheint für die Welt zumindest ein bisschen interessant zu sein, den Rest des Jahres wirst du hingegen fleißig von den anderen Bundesländern ignoriert. Alle anderen sind anscheinend wichtiger als du, Deutschlands durchschnittlichstes Bundesland.

Und diese Ignoranz regt mich auf – weil sie so typisch ist für das, was in Deutschland falsch läuft. Keiner weiß mehr den unaufgeregten Durchschnitt zu schätzen. Dabei gibt es so viel, das andere Bundesländer von dir, liebes Niedersachsen, lernen könnten. Die reichen, süddeutschen Streber, die ach so weltgewandten Stadtstaaten – ja sogar die Bundesländer in Ostdeutschland, mit denen du so häufig wegen des Wortes „Sachsen“ in einen Topf geworfen wirst. Ich wurde als Exil-Niedersächsin im Süden zumindest schon mehrfach gefragt, ob meine Heimat „im Osten“ läge - und da behaupten die Bayern nochmal, ihr Abitur sei so viel anspruchsvoller als unseres.

Natürlich bist du auf den ersten Blick nicht besonders aufregend. Dein Länderslogan „Niedersachsen. Klar“ ist einer Studie zufolge der unbekannteste Deutschlands. Deine Hauptstadt Hannover ist nicht für ihre Sehenswürdigkeiten, sondern für die Produktion von Gestalten wie Carsten Maschmeyer, Christian Wulff und Gerhard Schröder bekannt. Auf deiner Positiv-Liste stehen neben dem Wattenmeer die Massenproduktion von babyrosafarbener Geflügelwurst, Jägermeister und VWs.

Und trotzdem – und das meine ich völlig ernst – sollten andere von deiner unaufgeregten Durchschnittlichkeit lernen. Die meisten Menschen in Deutschland sind durchschnittlich. Gut zwei Drittel von ihnen leben in einer Stadt mit weniger als 100.000 Einwohnern. Sie sind nicht besonders reich, aber eben auch nicht besonders arm. Der Durchschnittsdeutsche könnte gut in Niedersachsen leben. Das wäre politisch ein Grund zur Hoffnung – der Niedersachse ist nämlich in seinem Durchschnittsdasein ziemlich zufrieden.

Das schlägt sich auch bei Wahlen nieder. Bei der Bundestagswahl vor drei Wochen haben in Deutschland 12,6 Prozent AfD gewählt. In Ostdeutschland, aber auch in Teilen des reichen und vermeintlich sehr viel wichtigeren Bayerns, taten es teilweise noch sehr viel mehr Menschen. In Niedersachsen waren es hingegen acht Prozent. Bei den Umfragen für die heutige Landtagswahl liegt die AfD sogar nur bei sieben Prozent.

In Niedersachsen war man schon immer skeptisch gegenüber allem Extremen

Das macht mich stolz auf die Niedersachsen. Denn gemessen an unserer geringeren Einwohnerzahl haben wir in den vergangenen Jahren zeitweise verhältnismäßig mehr Asylsuchende aufgenommen als zum Beispiel Bayern. Aber auch in absoluten Zahlen war Niedersachsen stets unter den Top vier, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen ging. Das klingt explosiv für ein Bundesland, das nicht übermäßig reich ist und keine traditionell toleranteren Millionenmetropolen hat. In anderen Bundesländern macht so etwas den Menschen offenbar Angst um die eigene Identität und treibt sie in die Arme extremer Parteien.

In Niedersachsen war man hingegen schon immer skeptisch gegenüber allem Extremen – sowohl die Linkspartei als auch die AfD haben hier nicht viel zu melden. Böse Zungen behaupten, das läge daran, dass du anders als zum Beispiel die Bayern gar keine Identität hättest, derer du dich beraubt fühlen könntest. Ich sage: Du fühlst dich eben wohler in der Mitte. Was nicht heißen soll, dass es nicht auch in dir verirrte Menschen gibt, die von dieser Angst getrieben sind. Die Asylbewerberheime anzünden, Reichsbürger werden und in die Facebook-Kommentarspalten schreiben, die Flüchtlinge würden die deutsche Kultur unterwandern.

Aber der Durchschnitts-Niedersachse scheint gut klarkommen. Natürlich ist das nur ein kleiner Ausschnitt, aber auch in meiner niedersächsischen Heimat-Kleinstadt waren vor zehn Jahren noch fast alle weiß und evangelisch. Jetzt kann man dort Frauen mit Kopftüchern sehen, die Arabisch und Deutsch sprechende Kinder in der Kita abgeben. Männer verschiedenster Hautfarbe radeln zusammen durch die Marsch. Und kaum einen regt das auf. Auch Freunde von mir, die sich seit Jahren in der lokalen Flüchtlingshilfe engagieren, machen kaum Aufheben darum. In Niedersachsen sei ja noch genug Platz für andere, sagen sie. In Ostdeutschland und Bayern, aber auch in Großstädten wie München und Berlin, hört man da mittlerweile häufig ganz andere Aussagen. Und auch im niedersächsischen Wahlkampf ist die Flüchtlingsfrage, bis auf die leidliche Debatte um bisherige Abschiebungserfolge, kaum präsent – die Zukunft von VW oder der drohende Bau eines Schweinestalls im Landkreis scheinen den Menschen da drängender.

Und deshalb ist es eben so wahnsinnig dumm, auf dich, liebes Niedersachsen, herabzuschauen. Wären alle so unaufgeregt wie du – das gesellschaftliche Klima wäre ein besseres. Im Niedersachsenlied, deiner inoffiziellen Hymne, wirst du als „sturmfest und erdverwachsen“ beschrieben. Ich fand das immer sehr albern. Aber vielleicht ist es wahr: Über Deutschland fegt ein Sturm, die politische Landschaft verändert sich, aber du machst da, zumindest vorläufig, nicht mit.

 

Und deshalb wirst du, liebes Niedersachsen, dich auch nicht von der ausbleibenden Wertschätzung vom Rest Deutschlands unterkriegen lassen. Du warst nie der Streber, der für alles was er tut, gelobt werden will. Sondern ziehst einfach mit einem „Joa, läuft“ dein Ding durch. Deshalb: Zieh es bitte auch heute durch. Mach mich stolz, in dem du unauffällig bleibst, und in puncto AfD sogar unterdurchschnittlich ablieferst. Der Rest Deutschlands wird es dir zukünftig hoffentlich danken – und nachziehen.

 

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