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Ich schäme mich noch immer für meine prekäre Herkunft

Illustration: Katharina Bitzl

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 Don't be fooled by the rocks that I got

 I'm still, I'm still Jenny from the block

 Used to have a little, now I have a lot

 No matter where I go, I know where I came from (from the Bronx!) …

Jennifer Lopez

Mag ja sein, dass es etwas vermessen ist, sich mit J. Lo in einen Topf zu schmeißen. Schließlich habe ich weder ihren Ruhm, noch ihre Kohle, noch ihren Hintern. Noch nicht, jedenfalls. Und doch: Wir beide kamen von unten. Und landeten oben. Sie hat's zugegebenermaßen ein ganzes Stückchen höher geschafft als ich, aber was soll's. Die Richtung ist die gleiche. Und wir beide wissen noch immer um unsere prekären Wurzeln, die Jenny und ich. Nur, dass ich im Gegensatz zu Jenny from the Block niemals derart drauf herumreiten würde. Denn erstens habe ich keine Fanbase, der ich Volksnähe beweisen muss, um sie zu halten. Und zweitens schäme ich mich dazu viel zu sehr. Warum ich diesen Text dennoch schreibe? Ich begreife ihn als Therapeutikum. Und bin nicht mehr ganz nüchtern. Beste Voraussetzungen für etwas unangenehme Geschichten also.

Meine geht so: Mit sechs Jahren kam ich nach Deutschland. Mein russlanddeutscher Vater und meine russische Mutter hatten sich für unser weiteres Leben wer weiß was erhofft. Immerhin waren sie Dirigent und Ärztin, damit konnte man im goldenen Westen garantiert mehr reißen als im ranzigen Moskau. Doch Ätsch, in Deutschland angekommen, mussten sie sich die ersten Jahren als unterbezahlter Musikredakteur und noch miserabler bezahlte Putzfrau durchschlagen. Die Kohle war knapp, die Möbel kamen vom Sperrmüll und die Klamotten von den Familien, bei denen meine Mutter putzte.

Alles in Allem war klar: Wir haben nichts, die haben alles

An sich wäre das alles nicht so wild gewesen, denn an Lebensqualität hatten wir ja definitiv gewonnen. Man brauchte sich nur mal bei Aldi umzusehen – da herrschten im Gegensatz zu den leeren Regalen in den Moskauer Lebensmittelläden paradiesische Zustände. Wären wir nicht in dieser hochgradig bürgerlichen Kleinstadt gelandet, in der wirklich jeder mindestens den Doppelhaushälften-Traum zu leben schien (wenn er nicht zufällig eine von diesen Gründerzeitvillen geerbt hatte – dann lebte er den Gründerzeit-Traum). Alles in Allem war klar: Wir haben nichts, die haben alles. Dazu noch die Sprachbarriere, keine Ahnung von dem, was gerade angesagt ist und nicht vorhandene Tischmanieren (eine Kulturpraxis, die in Russland nicht besonders weit verbreitet ist): Voilà, mein Selbstbild mit dem Titel „Arm und asozial“ war geboren. Da nützte es nicht mal was, dass meine Eltern Akademiker waren. Denn offensichtlich hatten wir rein gar nichts davon.

Meine Scham bekämpfte ich, indem ich alles im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten Stehende unternahm, um so zu werden wie die anderen. Ich beobachtete meine Freundinnen peinlich genau: Was ziehen sie an, wie reden sie, wie bewegen sie sich?

Und obwohl ich es innerhalb von kürzester Zeit zu akzentfreiem Deutsch, den richtigen Leggings und einer angemessenen Beliebtheit brachte, fürchtete ich stets, durch irgendeine Unachtsamkeit doch noch enttarnt zu werden.

Und das tue ich heute noch. Klar, ich habe mich entwickelt. Berlin, der alte Moloch, hat schon so seine Spuren hinterlassen. Doppelhaushälften sind mir ein Graus, und ob ich Leggings trage oder gar nichts, lasse ich mir nicht vorschreiben. Ich habe studiert, eine von diesen geschmackvollen Altbauwohnungen mit Flügeltüren bezogen und wenn ich mit Geld besser umgehen könnte, könnte man behaupten, ich verdiene ganz gut. Ich treibe mich auf den richtigen Partys mit den hippen Leuten rum und weiß ganz im Allgemeinen, wie der Laden so läuft. Mit anderen Worten: Ich habe mich gut gemacht. „Arm und asozial“ und der ganze da dranhängende Komplex, so könnte man von Außen meinen, sind Vergangenheit. Denkste.

In Wirklichkeit spult mein Gehirn seit 25 Jahren dasselbe Programm ab. Der Gedanke, jemand könnte diese Schwachstelle von mir erkennen, lässt nach wie vor nichts als in mir Scham hochkommen. Und die völlig abstrakte Angst, nicht mehr dazuzugehören, wozu auch immer.

Panisch untersuche ich mein Outfit auf Prekariatsspuren

Die äußert sich dann in der völlig bescheuerten Weigerung, mit irgendetwas anderem zu reisen als meinem Rimowa-Koffer. Oder der Panik davor, irgendeinen Bullshit wie das neue Böhmermann-Video zu verpassen und dann nicht mehr mitreden zu können. Loch in der Strumpfhose? Bierfahne? Buddenbrooks nicht gelesen? Fatal. Und wenn ich mit Menschen in Berührung komme, die richtig viel Kohle und/oder Großbürgertum im Blut haben, dann wird’s besonders schlimm für mich.

Panisch untersuche ich mein Outfit auf Prekariatsspuren. Und finde trotz aller Sorgfalt wirklich immer welche. Einen Saucenfleck, der bezeugt, dass ich noch immer nicht mit Besteck umgehen kann. Oder Fusseln auf dem Kleid, die zeigen, dass ich mir nichts Besseres leisten kann. Dann gibt es da noch meine mangelnde Kenntnis von den Immobilienpreisen in London, Aktien, Opern und Whiskeysorten. Oder die Überforderung, wenn Kellner mir den Stuhl zurecht rücken oder Wein nachschenken wollen. Am Liebsten würde ich ihnen Stuhl und Wein aus den Händen reißen. So viel Bedientwerden bin ich einfach nicht gewöhnt. „Scheiße“, denke ich dann, „gleich weiß es jeder: arm und asozial.“

Alles Dinge, für die mein Freund mich immer auslacht. Er selbst kommt aus einer typischen Mittelschichtsfamilie und kennt solche Zweifel nicht. Selbst wenn er keine Ahnung hat, wie er den französischen Wein aussprechen soll oder in Turnschuhen bei einem Empfang aufschlägt – es interessiert ihn nicht, ob ihn jemand für unterprivilegiert halten könnte. Weil er weiß, dass er es nicht ist. Auf dieses entspannte Selbstverständnis bin ich manchmal wirklich neidisch.

Aufsteiger*innen werden belächelt, weil sie die richtigen Codes nicht kennen

„Arm und asozial“ existiert übrigens nicht nur in meinem Kopf. Dass soziale Mobilität eine super Sache ist, darin sind sich im Grunde alle einig. Selbst die, die schon als Fabrikantenerb*innen zur Welt gekommen sind. Jeder sollte es überall hin schaffen sollen, selbstverständlich. Und doch werden Aufsteiger*innen belächelt, weil sie die richtigen Codes nicht kennen. Wenn Metzgers-Sohn Harald Glööckler in seiner Märchenkutsche beim Wiener Opernball vorfährt, ist abzusehen, dass er nicht der Star, sondern der Außenseiter des Abends wird. „Peinlich, peinlich“, denke ich in solchen Momenten und gleichzeitig: „Schade“. Schade, dass es so wenig echte Bewegung in unserer Gesellschaft gibt. Und dass unsere Herkunft so viel Macht über uns hat, selbst, wenn wir „es“ dann tatsächlich geschafft haben.

Dabei muss man nicht mal so ungelenk protzen wie Glööckler, um Anpassungsschwierigkeiten zu haben. Allein in meinem, ziemlich bunt gemischten, Freundeskreis finden sich zahlreiche Beispiele.

E., zum Beispiel, der in einer Kommune aufgewachsen ist. Als er sie nach der Schule verließ, hatte er keinen blassen Schimmer, wie die Welt da draußen funktioniert. Und obwohl sein Start-Up einen Raketenstart hingelegt hat und das Geld nur so auf ihn herabregnet, hat er bis heute das Gefühl, sein berufliches Umfeld eher nachzuahmen als wirklich dazuzugehören. Letztens waren wir zusammen bei einer Weinprobe, um uns wenigstens pro forma mal die Basics draufzuschaufeln. E. schrieb noch eifriger mit als ich. Im Vertuschen seiner Herkunft ist er wirklich Weltklasse.

Oder A., der aus einer verarmten Bauernfamilie kommt und automatisch auf die Hauptschule geschickt wurde, weil das Klassensystem eben so funktioniert. Er hat gegen alle Widerstände Abi gemacht, promoviert und ist heute als Politiker erfolgreich. Ich kenne niemanden, der so gestelzt und fremdwortlastig redet wie er, niemanden, der so auf Förmlichkeiten bedacht ist. Gleichzeitig ist seine einfache Herkunft sein Ticket in die Herzen der Wähler. Wenn einer sagt: „Ich bin einer von Euch. Ich kenne Eure Probleme und weiß, wie es Euch geht“, das wirkt. E. hat sich seine Abstammung zunutze gemacht, genau so wie unsere alte Freundin J Lo. Und das bewundere ich sehr.

Letztens sagte jemand, der eindeutig im braven Bildungsbürgertum zu verorten ist, zu mir: „Eigentlich geil, wo du herkommst und was du geschafft hast. Mir wurde im Leben alles derart hinterhergeschmissen. Das müsstest du viel mehr feiern, statt es zu verstecken!“ Da habe ich dann die Wodkaflasche rausgeholt. Und diesen Text hier geschrieben.

Anm. der Redaktion: Dieser Text wurde zuerst am 20.09.2017 veröffentlicht und am 23.08.2020 noch einmal aktualisiert.

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