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Sexueller Missbrauch von Müttern an Söhnen ist real

Illustration: Johannes Englmann

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In einem schwach beleuchteten Kinderzimmer unterm Dach, kurz vorm Schlafengehen. Der kleine Markus sitzt im Pyjama vor seiner Mutter. „Gib mir mal die Hand.“ Sie packt die Hand ihres Sohnes und führt sie zwischen ihre Beine. „Du musst das lernen. Für später.“ Sie bewegt sie hoch und runter. Fängt an zu schnaufen. Der Junge zieht die Hand ängstlich zurück, wird geohrfeigt. Die Mutter packt ihn wieder, macht weiter. Das Schnaufen wird immer schwerer. 

Die Unerträglichkeit der Szene wird noch verstärkt von der grotesken Tatsache, dass dieser Junge, dem blankes Entsetzen in den Augen steht, gleichzeitig ein 39-jähriger Mann mit dunklem Dreitagebart ist. Es ist die verdrängte Erinnerung des erwachsenen Markus, die nach und nach wieder in sein Bewusstsein rieselt und es lähmt. Seine Mutter hat ihn benutzt, sich an ihm befriedigt, ihn vollkommen unterworfen. Die Szene stammt aus dem Film „Die Hände meiner Mutter“ (ab heute  in den Kinos). Und sie löst starke Befremdung aus. Man hat irgendwie das Gefühl, dass es diesen Film nicht geben sollte, dass er keinen Sinn ergibt, dass da irgendjemand was falsch verstanden hat.

Woher kommt dieser seltsame Grusel?

Das war zumindest unser Eindruck als wir den Trailer in der Redaktion gesehen haben, sowohl bei Söhnen als auch bei Töchtern. Gleichzeitig kam da aber auch der Verdacht auf, dass diese Reaktion irgendwie ungerecht ist. Denn Missbrauch ist doch eigentlich immer etwas Furchtbares. Er findet überall und täglich statt. Er macht Menschen wütend, verzweifelt, lässt sie dieses Leben und seine Grausamkeit verfluchen. Aber so schlimm er ist, man hat ihn wohl irgendwie in sein Weltbild eingeordnet, hat eine Erwartungshaltung: Mann missbraucht Frau, oft sogar der Vater die Tochter. Aber die Mutter den Sohn? Das scheint nicht in unsere Logik zu passen, so zynisch es klingt. Es muss ein Versehen der Natur sein, ein Missverständnis. Nur, woher kommt er, dieser seltsame, ungläubige Grusel? Äußert sich hier ein tief verwurzelter Sexismus? Oder ist es vielleicht eine instinktive, angeborene Scheu?

„Die Mutter ist die Bezugsperson schlechthin im Leben eines Kindes. Dass diese Verantwortung missbraucht wird, wollen wir einfach nicht wahrhaben“, erklärt Jörg Schuh, Mitarbeiter bei Tauwetter e.V., einer Anlaufstelle für Männer, die in der Kindheit missbraucht wurden. „Außerdem widerspricht es schlichtweg dem klassischen Rollenbild, in dem der Mann der Täter und die Frau das Opfer ist. Besonders wenn erwachsene Männer von Missbrauch sprechen, scheint das erstmal unglaubwürdig, weil schwer vorstellbar.“ Tatsächlich wirkt es auch im Film ziemlich absurd, den großen, männlichen Markus in Gegenwart der kleinen, ergrauten Mutter, seiner Vergewaltigerin, zu sehen. Wie sie da harmlos auf einer Familienfeier neben seinem Vater sitzt und mittlerweile niemals körperlich in der Lage wäre, ihrem Sohn irgendwas anzutun.

Dass der größte Teil familiärer Missbrauchsfälle von Männern begangen wird, steht außer Frage. Aber Frauen seien häufiger Täter, als man vermuten würde, meint Schuh.  Gemeinhin spricht man von 15 bis 20 Prozent, wobei die Dunkelziffer hier deutlich höher sei, wegen der oft als größer wahrgenommenen Demütigung für einen Mann, von einer Frau missbraucht worden zu sein, und den damit einhergehenden Hemmungen, sich selbst und anderen den Missbrauch einzugestehen.

Eine unnatürliche Rückkehr des Sohnes zum Körper der Mutter

Die Umkehrung des Rollenbildes also scheint naheliegend als Erklärung für die intuitiv entsetzte Reaktion. Aber ist sie damit schlicht das Ergebnis eines erlernten Schemas, das wir von Missbrauch und Gewalt haben oder gibt es noch andere Erklärungen? Dr. Mathias Hirsch, psychoanalytischer Therapeut und Autor des Buches „Mütter und Söhne – blasse Väter“, das den Missbrauch von Söhnen durch ihre Mütter behandelt, sieht auch Gründe im Unbewussten: „Mutter-Sohn-Inzest ist für unsere immer noch patriarchalische Gesellschaft auch deshalb absoluter Horror und eines der größten Tabus überhaupt, weil die sexuelle Körperlichkeit des Missbrauchs als eine unnatürliche Rückkehr des Sohnes zum Körper der Mutter wahrgenommen wird, den der Sohn eigentlich mit der Geburt und der Stillzeit hinter sich lässt. Durch diese Rückkehr in die Symbiose und Identifikation mit der Mutter wird zu einem gewissen Teil verhindert, dass er Unabhängigkeit entwickelt und zu einem Individuum werden kann.“

Natürlich sind psychoanalytische Ansätze nicht unumstritten, aber dieser ergibt zumindest Sinn, wenn man ihn auf den Film anwendet. Denn wie gesagt wird das Kind Markus in den erinnerten Missbrauch-Szenen vom gleichen Schauspieler wie der 39-jährige gespielt. Der erwachsene Mann ist zum Teil immer noch Kind und definiert sich über die Mutter.

Was sich auch in seiner Sexualität niederschlägt: Beim Sex mit seiner Frau bringt er sie schnell und gekonnt manuell zum Orgasmus, verzichtet selbst aber darauf. So wie er es gelernt hat. „Viele der Betroffenen Männer reden mit bitterem Sarkasmus davon, dass sie es immerhin gelernt hätten, eine Frau zu befriedigen. Das rührt vor allem daher, dass der Sohn in den meisten Fällen noch so jung ist, dass vaginale Penetration gar nicht möglich ist. Und von der Mutter auch nicht angestrebt wird. Sie benutzt das Kind, wie im Film, eher zur Selbstbefriedigung. Dadurch haben Betroffene gelernt, dass es beim Sex nicht um sie, sondern um die Frau geht“, sagt Schuh.

"Es geht darum, eine Pseudo-Männlichkeit zu entlarven."

Dieses Ungleichgewicht in der Beziehung ist es, was Markus am meisten quält. Er lebt in der ständigen Angst, von seiner Frau, aber auch von anderen nicht als Mann wahrgenommen zu werden. In einer Szene hat er einen Tagtraum von einem jungen Halbstarken, der seine Schande kennt und ihm als dominantes Affenmännchen zur Demütigung den Schritt ins Gesicht drückt. Gleichzeitig erträgt Markus es nicht, länger zu schweigen. Dabei stößt er vor allem bei der Suche nach Hilfe auf ein Verhalten, das Ausdruck des krampfhaften Versuches ist, ein Geschlechterbild aufrechtzuerhalten, das schlichtweg die Möglichkeit eines Missbrauchs des Mannes durch die Frau ausschließt: Es wird von verschiedenen Seiten versucht, ihn in die aktive, die Täterrolle zu drängen. „Haben Sie nicht manchmal auch ein bisschen Lust empfunden?“, fragt ihn ein Therapeut augenzwinkernd.

Auch Mathias Hirsch sieht in dieser Verdrängung des Unerhörten eine normative Haltung, die aber im Wandel sei: „Es war lange unmöglich für Männer, Opfer zu sein, Patient zu sein, Schwäche zeigen zu dürfen. Das ändert sich zum Glück. Es gibt schon viel mehr männliche Patienten, die sich in Therapie begeben als etwa vor 30 Jahren. Es geht darum, eine Pseudo-Männlichkeit zu entlarven, die mit Macht und Erfolg versucht, völlig nachvollziehbare Schwächen zu kaschieren.“

Das schlage sich auch in der Familienkonstellation im Film nieder. „Der Vater, dieses fast schon barock-dicke Firmenoberhaupt mit Schnauzer ist eigentlich der Prototyp des autoritären Übervaters, von dem wir intuitiv die Rolle des Vergewaltigers annehmen, der letztlich aber eigentlich schwächer ist als seine Frau.“ Und hier liege auch ein wichtiger Grund für den Missbrauch an Markus. Im Film kommt heraus, dass die Mutter von ihrem eigenen Vater missbraucht wurde. Diese Erfahrung männlicher Gewalt und einer Geschlechternorm, in der sie hierarchisch unter ihrem Mann stehen muss, äußere sich dann in den umgesetzten sexuellen Machtphantasien der Mutter an ihrem Sohn, der dann quasi stellvertretend für ein verhasstes Patriarchat stehe.

Erst, als Markus am Ende des Films seine Scham überwindet und vor der versammelten Großfamilie den generationenlangen Missbrauch offenlegt, durchbricht er die Kette sexueller Unterdrückung. Die letztlich eben auch auf ein Rollenbild zurückzuführen ist, das von Männern Aggressivität und Dominanz und von Frauen Fügsamkeit erwartet. „Gerade jetzt gibt es nach jahrhundertelanger Tabuisierung von Sexualität und festgefahrenen Geschlechterrollen die Chance, über diese Dinge zu reden.“, sagt Schuh.

Aber selbst, als längst die ganze Schuld der Mutter offen zu Tage liegt und Markus dazu anhebt, vor ungefähr 100 Verwandten die Einzelheiten des Missbrauchs auszusprechen, wehrt sich irgendwas in einem dagegen. Man kann immer noch nicht ganz akzeptieren, dass diese Frau diesem Mann diese Dinge angetan hat. Aber zu echter Gleichberechtigung gehört es wohl auch, Frauen zuzugestehen, dass sie Täterinnen sein können.

Und deshalb ist „Die Hände meiner Mutter“, auch wenn es in diesem Genre („Das Fest“ von Thomas Vinterberg zum Beispiel) sicher bessere gibt, ein wichtiger Film, bei aller Phrasenhaftigkeit des Ausdruckes. 

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