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Das Herz aus Zimmer 13

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Herr K. ist sehr dünn, sehr gelb und spricht vom Tod. Er tut das in einem Raum, der so wenig nach Krankenhaus aussieht, wie ein Raum im Krankenhaus das eben kann: Teppichboden, Bücherregale bis zur hohen Decke. Durch die geöffneten Fenster wehen Vogelzwitschern und Sommerluft. Ob er sich vor dem Sterben fürchte, fragt der junge Mann, der Herrn K. gegenüber sitz. Mike, 23, Student, der mal Arzt sein möchte. Die zehn Jungs und Mädchen auf den Stühlen ringsum halten den Atem an. Und zücken die Stifte. Ein Abend in der Anamnese-Gruppe München: Drei Stunden Pause von den Prüfungsunterlagen. Drei Stunden Leben und Tod.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Einmal pro Woche treffen sich Medizin- und Psychologiestudenten von LMU und TU in einer Münchner Klinik. Dazu kommt ein Patient, über den sie vorher nichts wissen. Eine Anamnese, so hat Mike das Herrn K. zu Beginn erklärt, ist „im Prinzip jedes Gespräch, das ein Arzt mit Ihnen führt.“ Laut Medizin-Lexikon ist die Anamnese „das Erfragen der Vorgeschichte einer Krankheit oder Störung“. Packt man diese beiden Definitionen zusammen, heißt das also: Jedes Mal, wenn ein Arzt sich mit einem Patienten unterhält, geht es um dessen Krankheit. Hier heißt es: Mike darf mit Herrn K. reden, worüber er möchte – das Wetter, die Krankheit, das Sterben. Egal.

Studentische Anamnese-Gruppen wie diese findet man an fast jeder medizinischen Fakultät Deutschlands. Die Teilnahme ist freiwillig, Noten und Leistungspunkte gibt es keine. Trotzdem gibt es jedes Semester mehr als genug Studenten, die die drei Stunden pro Woche noch in ihren ohnehin schon vollen Stundenplan quetschen. Warum tun sie das? Ist es das pure Interesse an menschlichen Schicksalen, das man für so ein Studium ja auch dringend braucht? Kommt das im Studium zu kurz? Müssen die Studenten also in ihrer Freizeit den menschlichen Aspekt erlernen, der ihnen in der Uni fehlt? Und vor allem: Macht sie das zu besseren Ärzten, zu besseren Psychologen? Will man als Arzt wirklich die Fragen stellen, die den Fall zum Menschen machen? Zittert das Skalpell nicht weniger, wenn da das Herz aus Zimmer 13 auf dem Tisch liegt und nicht Frau Müller mit den vier Enkeln und dem Traum von der Südseereise?

Nach dem Gespräch mit Herrn K. werden diese Wörter dabei sein: „Lebemann“, „verstörend“, „Fragezeichen“. Und „Tod“.

„Keine Angst, hier geht es weniger um Sie als um mich.“ So erklärt Mike Herrn K. das Kritzeln der Stifte, das jetzt eingesetzt hat. Natürlich stimmt das nicht – aber irgendwie dann doch: Das Spannende ist, was Herr K. erzählen wird. Aber die Stifte schreiben auf,  wie Mike darauf reagiert. „Ich werde dann im Anschluss nämlich evaluiert“, sagt Mike. Herr K. nickt und lächelt. „Fremdwörter nicht erklärt“ notiert ein Stift. Und daneben ein dickes Minus. Prüfungen und Dozenten gibt es hier nicht, die Rückmeldung kommt nur von den Kommilitonen. Jeder nennt etwas, das toll war am Gespräch und etwas, das nicht ganz so toll war. Und ein Wort, das ihm spontan dazu einfällt. Nur ein Wort. Nachgefragt oder kommentiert wird nicht. Das nennen sie hier „blitzen“ – das, was einem gerade durch den Kopf geht, mit einem Wort zusammenfassen. Nach dem Gespräch mit Herrn K. werden diese Wörter dabei sein: „Lebemann“, „verstörend“, „Fragezeichen“. Und „Tod“.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Zwei Stunden vorher, zu Beginn des Treffens, waren die Begriffe noch andere. Da ging es beim Blitzen noch nicht um Patienten, sondern um die Studenten selbst: Jeder sollte ein Wort sagen, das seine eigene momentane Stimmung beschreibt: „Prüfungen“ fiel da, „Bibliothek“ und „sackmüde“. Außerdem hatten die Gruppenleiter, Niklas, 6. Semester Medizin, und Franzi, Psychologie im 4., angekündigt, dass heute etwas anders sein wird. Ausnahmsweise werden zwei Patienten kommen. Herr K. ist der zweite von ihnen. Vor Mike wird heute Luiseein Gespräch führen. Ihre Stimmung in einem Wort: „Saunervös“.

Luise ist 24 und etwas Besonderes. Sie studiert Theaterwissenschaften, neben ihr sitzt ein angehender Pfarrer, der die Seelsorge üben will. In diesem Semester haben sie hier als erste Gruppe in Deutschland einen interdisziplinären Versuch gestartet: Neben Medizinern und Psychologen dürfen auch andere Studenten mitmachen. Davon erhoffen sich Niklas und Franzi neuen Input. Patienten auf der Krebsstation zum Beispiel wollen oft über Gott reden, sagt Niklas – das können Theologen besser als Mediziner. Von angehenden Pfarrern sollen sich angehende Ärzte das abschauen.

"Haben Sie mal auf die Dauer so nen Pavianhintern wie ich!", sagt Frau T.

Luise hat lange die beiden Stühle zurechtgerückt für ihr Gespräch, hat genau geschaut, wie viel Nähe sie will und wie viel Abstand sie braucht. Auf einem davon sitzt sie jetzt, sehr aufrecht, sehr angespannt. Luise sagt, sie freue sich auf das Gespräch. Aber nicht darauf, beobachtet zu werden. „Wird schon“, sagt Mike. Dass er selbst später mit Herrn K. über den Tod reden wird, weiß er jetzt noch nicht. Mike ist entspannt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Er kennt Patientengespräch sonst aus der Uni. Allerdings, und das ist ein großer Unterschied, mit einem „standardisierten Patienten“. Einem Schauspieler, der eine vom Dozenten vorgegebene Rolle spielt, also eine fiktive Krankengeschichte auswendig gelernt hat. In der Anamnesegruppe ist Mike, weil er echte Patienten kennenlernen will. Nach der Familie fragen, nach den Träumen und Ängsten. Die „psychosoziale Ebene“ nennt er das – und klingt dabei ein bisschen wie ein Absatz aus dem Lehrbuch.

Die Tür öffnet sich und alle verstummen. Auftritt Frau T. Eine zierliche Frau Mitte 50 grüßt fröhlich in die Runde, wesentlich entspannter als Luise. Als die ihr erklärt, dass sie heute nicht mit einer angehenden Ärztin, sondern mit einer Theaterwissenschaftlerin sprechen wird, sagt Frau T. nur: „Huch!“ Und lacht. Mit Ärzten hat sie wahrscheinlich genug geredet in ihrem Leben. Morbus Crohn, Frau T.s Darm ist entzündet, seit sie 17 ist. Luise muss nicht viel fragen, Frau T. spricht routiniert, pragmatisch und mit viel Selbstironie von ständigem Durchfall und Schmerzen. "Haben Sie mal auf die Dauer so nen Pavianhintern wie ich!", sagt sie und kichert so heftig, dass sie den Beutel ihres künstlichen Darmausgangs festhalten muss.

>>>„Humor braucht man“, sagt Frau T.: Ein Stehaufmännchen sei sie schon immer gewesen. Dann wird sie kurz still. Luise hält die Stille aus, Frau T.s künstlicher Darmausgang blubbert dazwischen.<<<


Luise ist in ihrer ganzen Körperhaltung ein einziges, großäugiges „Oh“. „Sie sind ein fröhlicher Mensch“, bringt sie trotzdem raus. „Humor braucht man“, sagt Frau T.: Ein Stehaufmännchen sei sie schon immer gewesen. Dann wird sie kurz still und in der Stille klingt an, dass es viel gegeben hat, wovon Frau T. aufstehen musste. Luise hält die Stille aus, Frau T.s künstlicher Darmausgang blubbert dazwischen. Morgen wird sie ja auch schon wieder entlassen, sagt Frau T. „Und worauf freuen Sie sich besonders?“, fragt Luise. Und Frau T. erzählt. Von ihrem Mann, den Hunden, dem großen Garten. Vom Gefühl, die Finger in frischen Dreck zu graben. Von den Reisen in den Süden, die sie planen. Mit Wohnmobil statt Flugzeug, wegen der Hunde. Die letztes Worte ihres Auftritts: „Und im Übrigen habe ich vor, sehr alt zu werden.“ Noch einmal Lachen. Dann geht Frau T.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Theaterwissenschaftlerin Luise hat gezeigt, wie man dem Patienten eine Bühne baut. Und dass dafür manchmal schon Zuhören und die richtige Smalltalk-Frage reichen. Worte zu Frau T. beim Feedback-Blitz: „Stärke“, „Lebensfreude“, „tapfer“.  Ein Wort für Luise: einfühlsam.

Und jetzt sitzt da also Herr K., dünn und gelb. Eines Nachts, vor etwa einem halben Jahr, hat er Blut erbrochen. In Thailand war das. Morgen ist die OP. Tumor in der Leber, acht mal zehn Zentimeter. Mike nickt. Was er denkt, ist in seinem Gesicht nicht zu lesen. Genauso gut hätte ihm Herr K. gerade seine Versicherungsnummer nennen können. „Professionell“ notiert ein Stift. Mike fragt nach, ob Herr K. die Medikamente verträgt, nach seinem Gewicht, wie viele Zigaretten er raucht. Er wirkt dabei älter als er ist. Und sehr sicher in dem, was er tut. Auf das Thema Tod kommt Herr K. fast von selbst. Als Mike ihn nach seiner Angst fragt, tut er das im selben Ton wie nach dem Gewicht. Mike kann sich nur langsam lösen vom Standard, vielleicht erscheint der ihm als Mediziner auch zunächst einmal wichtiger. Dass Herr K. ein Weltenbummler und ständig auf Reisen ist, dass er in Australien Gold gesucht und gefunden hat – das alles erfährt Mike erst zum Ende des Gespräches.

Warum Herr K. oft an völlig unpassenden Stellen lächelt, erfährt er nie. Später wird Mike sagen, er hätte sich gerne noch länger mit Herrn K. unterhalten. Auf die Frage nach der Angst vorm Sterben hat der übrigens mit Nein geantwortet. „Wenn man tot ist, ist man tot und dann soll’s eben so sein.“ Bei der Verabschiedung sagt Mike: „Alles Gute für Sie, Herr K.“ Er wird von allen Lob dafür bekommen, dass er sich den Namen gemerkt hat.

Text: anne-hagemann - Illustration: daniela-rudolf; Fotos: anne-hagemann

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