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Der Unsinn des einsamen Gary

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Wie brav er ausschaut, der Gary. Und dann guckt er so lieb und sagt: "I have 422 friends. Yet I’m lonely." Wie konnte das passieren? Arbeitet er zu viel und hat keine Zeit für seine Freunde? Ist er umgezogen und noch nicht richtig angekommen in der neuen Stadt? Riecht er nicht gut und die 422 halten darum Abstand?

Nichts davon. Gary Turk ist bloß noch einer in der langen Phalanx der Kulturpessimisten und Technikskeptiker und behauptet: Weil wir den ganzen Tag auf unsere Smartphones und Computer und Tablets starren, geht uns die "echte" soziale Interaktion verloren, verpassen wir das "wahre" Leben. Der Spoken-Word-Artist Turk hat diese Behauptung in ein Gedicht gekleidet. Es heißt "Look up" und das Video dazu wurde in den vergangenen Tagen auf YouTube fast 20 Millionen Mal angeklickt und massenweise auf Facebook und Twitter geteilt. Es erzählt, hinterlegt mit atmosphärischer Musik und in pathetischen Bildern, von der "generation of idiots, smartphones and dumb people", die wir Turks Meinung nach sind. Von den Chancen im Leben, die wir verpassen, wenn wir auf der Straße aufs Telefon schauen. Denn Gary Turk trifft eine tolle Frau, weil er sie nach dem Weg fragt, heiratet sie, bekommt eine zauberhafte Tochter mit ihr, die auch wieder ein Baby bekommt, und hält die Hand der tollen Frau, als sie im Sterben liegt. Am Ende dann das Gegenszenario: Gary Turk schaut an der Straßenecke auf sein Smartphone. Die tolle Frau geht vorbei. Er bleibt einsam zurück.

http://www.youtube.com/watch?v=Z7dLU6fk9QY "Look up" von Gary Turk - ein Gedicht gegen die Technisierung

Ich möchte ehrlich sein: Ich habe ein bisschen rumgeschrien, nachdem ich dieses Video angeschaut habe. Es ist ja nicht das erste dieser Art. Der Kurzfilm "I Forgot My Phone" zum Beispiel wurde ebenfalls sehr oft geteilt und hat mittlerweile mehr als 41 Millionen Klicks – darin sieht man die Protagonistin in vielen verschiedenen sozialen Szenen, in denen sie am Ende immer alleine ist, weil die anderen mit ihrem Telefon herumspielen. Aber "Look up" ist besonders schlimm. Denn erstmal möchte ich mir nicht von einem Nachwuchs-Prediger sagen lassen, alle meine Freunde und ich seien "Idioten" und "dumme Menschen". Zweitens verbreitet dieses Video die seltsame These, es gäbe auf der ganzen Welt nur diesen einen Menschen, mit dem man wirklich glücklich wird, und wenn man ihn verpasst (weil man zum Beispiel grade "Stehe an einer Straßenecke" twittert), dann wird das Leben nur halb so schön. Und drittens wiederholt der Text die viel zu kurz gedachte These, das Internet und unsere technischen Geräte würden uns zu unsozialeren und schlechteren Menschen machen. Hätte ich drei Wünsche frei, gäbe ich zwei ja gerne für Weltfrieden und nirgendwo mehr Hunger her, aber der dritte ginge auf jeden Fall dafür drauf, solche Texte von der Welt zu wünschen!  

Aber gut, dann eben noch einmal, anscheinend kann man es nicht oft genug sagen: Nein, es ist nicht schrecklich, dass die Menschen in der S-Bahn auf ihre Telefone schauen. Ohne die Telefone würden sie eben in die Zeitung schauen. Oder aus dem Fenster. Oder ins Nichts. Als hätten die Menschen früher dauernd miteinander gesprochen, in Bahnen und auf Straßen! Und nein, Liebe entsteht nicht immer nur in tollen "Ein erster Blick und es hat gleich gefunkt"-Momenten an der Straßenecke. Während Mrs. Right an ihm vorbeihastet, flirtet Gary Turk vielleicht gerade online. Mit seinem Smartphone. Beruhigt euch. Das Leben ist halt nicht so romantisch, wie ihr es gerne hättet. Es ist unendlich profan, voller Zufälle und ja, auch voller Telefone. Deal with it.  

Gary Turk geht aber nicht nur in der Liebe in die Vollen mit seinem Technik-Bash, er drückt natürlich auch noch auf den Nostalgie-Knopf und reimt über: die Kindheit. Er habe früher Baumhäuser gebaut und sich die Knie aufgeschrammt. Heute aber sei es in den Parks schaurig still und die Schaukeln hingen reglos da. Frage: In welche Parks geht Gary Turk? Zweite Frage: Wieso sollen Kinder nicht mit technischen Geräten umgehen können? Es geht doch wie immer und überall bloß um das richtige Maß. Auch Gary Turks Kindheit wäre sicher nicht die spannendste gewesen, hätte er ausschließlich Baumhäuser gebaut, und auch sicher nicht die gesündeste, hätte er sich täglich beide Beine aufgeschrammt.  

Es ist dieser seltsame, nostalgische Entweder-Oder-Gedanke, dem Turk und so viele andere, die das Video teilen, anhängen. Die Vorstellung davon, dass man "reale Welt" und Technik nicht vereinbaren könne. Dabei ist doch genau diese Vereinbarung das schöne, große Wunder unserer Gegenwart. Der Welt wurde durch die Smartphones in den Hosentaschen nichts weggenommen, ihr wurde etwas hinzugefügt. Die Möglichkeit, alles überall wissen zu können. Mit Freunden sprechen zu können, die ganz woanders sind, auch, während man mit anderen Freunden am gleichen Ort ist. In der Bahn ohne Zeitung Zeitungsartikel lesen zu können, zu chatten oder Scrabble zu spielen. Klar, die Welt hat sich dadurch natürlich auch verändert. Aber falls es jemand noch nicht mitbekommen hat: Das macht sie regelmäßig, seit es sie gibt. Heute geht eben ab und zu jemand zum Telefonieren raus, wenn man zusammen in der Bar sitzt. Oder ist drei Minuten abwesend, weil er jemandem zurück schreibt. Oder zwei treffen sich und spielen dann Quizduell gegeneinander. Aber ich habe noch nie erlebt, dass deswegen etwas zwischen Menschen kaputtgegangen wäre. Ich habe mich deswegen noch nie einsam gefühlt. Und auch noch nie das Gefühl gehabt, etwas zu verpassen. Vielleicht wären manche Gespräche ohne Smartphones auf dem Tisch anders verlaufen. Aber Gespräche sind auch 1954 anders verlaufen als 1994 und 1994 anders als heute. Aber sie sind nie verebbt. Meine Eltern haben sich lange Zeit darüber beklagt, dass ihre Töchter immer wieder auf ihre Telefone schauten, wenn sie daheim zu Besuch waren – das störe die Kommunikation, sagten sie. Seit sie selbst Smartphones besitzen, sind sie ganz begeistert. Weil wir eine Familien-Messenger-Gruppe gegründet haben. So oft wie dort haben wir wegen verschiedenster Wohnorte in den vergangenen Jahren selten alle auf einmal miteinander gesprochen.  

Lieber Gary Turk, vielleicht solltest du dir mal Spike Jonzes wunderbaren Film "Her" anschauen. Er erzählt aus einer technisierten Zukunft, in der sich der Protagonist Theodore in ein Betriebssystem verliebt. Trotzdem – nein, natürlich hat er auch noch Freunde in der "echten" Welt. Sehr gute Freunde sogar, an die er sich jederzeit wenden kann. Und dann gibt es da diese schöne, kleine Szene, die mich sehr glücklich gemacht hat: Theodore rennt durch die Stadt und eine Treppe hinauf. Um ihn herum viele Menschen mit technischen Geräten in den Händen und mit Knöpfen im Ohr. Theodore stolpert, Theodore fällt hin. Und sofort ist da dieser Mann, einer der vielen technisierten Männer, reicht ihm die Hand, hilft ihm auf und fragt, ob alles in Ordnung sei. Denn es ist ja so: Wenn du hinfällst und dir jemand nicht aufhilft, dann liegt es daran, dass er unhöflich ist. Nicht daran, dass er auf sein Telefon schaut. Und darum, Gary Turk, ist auch nicht dein Telefon Schuld an deiner Einsamkeit.

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