Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Hölle der Stille

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Ich bin ein sehr rastloser Mensch. Und meine elendige Ich-will-noch-dies-und-jenes-und-das-auch-und-zwar-gleichzeitig-Lebensart nervt mich und stresst mich manchmal so sehr, dass ich mir Katastrophen wünsche. Manchmal geht es mit meiner Sehnsucht nach kompletter Ruhe so weit, dass ich mir nicht nur Krankheiten, kleinere Unfälle oder Überschwemmungen herbeifantasiere, sondern dass ich mich ins Gefängnis wünsche. Sperrt mich ein, damit ich frei sein kann! Der absolute Irrsinn.

Aber jeder, der in den letzten Jahren oft genug Wochenendteile oder Dossiers von Zeitungen gelesen hat, in denen väterlich-sanftmütige Journalisten in offenen Briefen an ihre ältesten G8-Töchter gegen das Übel unserer flüchtigen Welt anschreiben, hat im Hinterkopf registriert: Langeweile ist der Weg zur Erleuchtung! Langeweile ist das, was uns gesund macht, was das Genie in uns antreibt, was uns Kraft gibt, unser wahres Ich zu entfalten! Vor mir dämmert dann immer ein verschwommenes Bild: Ein kleiner Mensch mit meinem Kopf drauf glotzt in eine Regenrinne, wo Spatzen vor weißem Himmel ihr täglich Wasser nippen. Wenn man mich denn ließe! Wenn mich die Welt denn endlich mal ließe, wenn man mir doch endlich mal meine Ruhe ließe! Ich will endlich mal nichts tun, endlich mal gezwungen sein, an eine weiße Wand zu starren. Rumliegen, eingesperrt sein, frei von dem Stress, den ich mir selbst mache, meinen Erwartungen, meinen Hoffnungen, Zielen – einfach: Ruhe!

Und dann wurde ich krank. In den Weihnachtsferien. Ich bin nie krank. Das letzte Mal richtig krank war ich vor mindestens vier Jahren. Ich kann mich kaum dran erinnern, wie es ist, länger als einen halben Tag im Bett liegen zu müssen. Langweilig war mir zuletzt mit ungefähr fünf Jahren, und auch das ist nur eine vage Vermutung, denn irgendwann im Leben muss einem ja schon einmal langweilig gewesen sein.

Ich musste mich also zwischen Weihnachten und Silvester hinlegen. Eigentlich die Erfüllung meines Traums vom erlaubten Rückzug und dann auch noch während dieser Zeit des Jahres, die einzig zum Verkriechen erfunden wurde. Mein Körper brauchte vor allem Schlaf, aber weil auch nach sehr viel Schlaf früher oder später immer wieder eine Menge Zeit zum Wachsein übrig ist, in der ein kranker Körper trotzdem liegen muss, wurde ich das erste Mal seit Jahren wieder mit einer Sache konfrontiert, die ich mir an stressigen Tagen so sehnlichst wünsche: mit vollem Bewusstsein völlig untätig existieren zu dürfen, ja zu müssen.

Das konnte ich nicht aushalten. Ich streamte trotz Ganzkörperschmerzen sofort einen Film, obwohl ich merkte, dass meine Ohren das nicht wollten, meine Augen auch nicht und es wirklich das Beste gewesen wäre, einfach nur rumzuliegen, an die Decke zu gucken, loszulassen und ab und zu wegzudösen. Aber ein innerer Teufel in mir wollte ganz dringend, dass ich einen Film gucke, dass ich nebenbei mein Smartphone durchscrolle und vielleicht auch noch mit meinem neuen 120er-Stifte-Set was male. Alles tat weh. Alles war eine Qual. Mein Körper wollte Ruhe und Schlaf. Mein Action-trainierter Geist aber wollte das überhaupt nicht. Also rang ich mir das Multitasking vor dem laufenden Film ab. Denn: so viel Zeit, soviel Zeit, dachte ich, die dahingeht! Indem ich nur liege! Hölle des Wachkomas. Wie kann man denn nur rumliegen? So muss es sich anfühlen, wenn man bei lebendigem Leibe vergraben wird, dachte ich. Und scrollte, während ein Film lief, wie eine irre durch nichtssagende Streams, und kritzelte auf einem Blatt Papier unmotiverte, hässliche Muster, nur, um nicht der Passivität zu erliegen.

Zum ersten Mal wurde mir klar, was ich als Gesunde sonst problemlos mit allerhand Betätigungen verdränge: Dass ich das Nichtstun komplett verlernt habe. Dass ich an chronischer Aufmerksamkeitsarmut leide, die Konzentrationsfähigkeit eines fortgeschrittenen Alzheimerpatienten und die Genügsamkeit einer Raupe Nimmersatt im Fressflash besitze.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Ich bin input-süchtig: Ich koche eifrig und unter ständigem Rühren ein Risotto und doch fehlt etwas, es fühlt sich an, wie aufs Klo müssen, nur nicht so unterleibhaft, eher im Hirn – das Gefühl verschwindet, wenn ich mein Handy nehme und allerhand Sachen checke. So etwas mache ich natürlich nicht mehr, wenn mich mein Freund dabei sieht, weil er dann schimpft, ich würde nicht im Jetzt leben. Also nehme ich statt des Handys die Zeitung, die auf dem Tisch liegt, das Magazin, oder stopfe mir was zu Essen in den Mund. Input input input! Ich kann auch nicht mehr aufs Klo gehen, ohne etwas zum Lesen oder Angucken oder Durchscrollen zu haben. Und man muss mich schon ins Kino sperren, damit ich einfach nur einen Film gucke und nicht nebenbei chatte, lese, zeichne, sieben Mal auf Stopp drücke, um was zu essen zu holen. Ich kann auch nicht mehr im Café sitzen und auf jemanden warten und dabei in aller Poesie die Leute beobachten. Ich ziehe mein Handy. Wie ein Zombie starre ich in Streams, die so flüchtig sind, dass ich nichts von ihnen wahrnehme. Lese Tweets aus dem pseudohaft aufgejazzten Leben irgendwelcher mäßig geistreichen Menschen, die mir nichts bedeuten und die nichts in mir hinterlassen als ein kaltes, leeres Gefühl gestohlener Zeit.

Risotto rühren, abwaschen, einen Film gucken, auf der Straße auf jemanden warten und einfach mal gucken, wie die Welt sich an einem Mittwoch um 13 Uhr so verhält, all diese Dinge sind seit dieser Möglichkeit des Handyziehens offenbar keine Beschäftigungen mehr, die mich ausfüllen. Mein Hirn braucht mehr, es ist durchgedreht, es ist zu einem dauerquengelnden Baby mutiert, das einen Kauring braucht, das alles angrapschen und ablecken muss.

Hilflos krank im Bett liegend versuchte ich mich also zu trösten, indem ich mir sagte: Die erste Phase der Langeweile ist ätzend, weiß man doch, sie ist nur der Griesbrei, durch den du hindurch musst, mitten hinein ins Paradies. In einigen Stunden wird eine selige Ruhe dich durchströmen und alles was du dann noch willst, ist dich in den Weiten deines farbigen Hirns zu verlieren und wie ein schön-trauriges tumblr-Mädchen dämmrig in den Staub zu glotzen, der glitzernd durch dein Zimmer schwebt wie heimatlose Partikel im All.

Doch nichts dergleichen. Die Stunden der Handlungsunfähigkeit waren eine Qual, die sich über drei Tage hinzog. Die Griesbreiwand war keine Wand sondern ein Universum.

Ich war und bin also doch das Opfer der rasenden Möglichkeiten und digitalen Feeds, das alle Kulturpessimisten so mahnend beschreiben, und denen ich dann immer trotzig sagen will: Lasst mich in Ruhe mit eurem Generationsgequatsche, mit dem Gerede über die Handysucht und den fehlenden Blick für das echte Leben! Es ist alles ganz anders als ihr denkt!

Aber sie haben ja so Recht. Ich bin ein Irrlicht, eine Ratte auf Speed. Steh mir bei, neues Jahr, ich muss wieder zu einem genügsamen Menschen werden.




Text: mercedes-lauenstein - Illustration: katharina-bitzl

  • teilen
  • schließen