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Mein Vorbild Boris Becker

Foto: John Redman, AP

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Dafür muss man ihn doch lieben: Während die Presse gerade seine Pleite meldet, posiert Boris Becker im Maßanzug in Wimbledon vor den Fotografen als wäre nichts. Finde ich stark. Daran merkte ich mal wieder: Der Bum-Bum-Boris ist mir einfach sympathisch. Und das liegt nicht nur daran, dass er aus dem meiner Heimatstadt benachbarten Leimen stammt. Nein, der Mann hat viel falsch gemacht. Aber das macht er zumindest richtig.

Natürlich muss man hier einschieben: Nein, natürlich finde ich nicht alles ausnahmslos toll, was Boris so getan hat. Zum Beispiel seine schwangere Frau betrügen und die Vaterschaft seiner unehelichen Tochter abstreiten. Tut man nicht. Aber wie Boris immer wieder entgleist mit seinen Beziehungsdramen, Geldproblemen und Gelegenheitsjobs: Das klingt nach Mittzwanzigern. Nach Quarter-Life-Crisis. Und das kommt mir sehr bekannt vor. Aus seinem Verhalten kann ich viel lernen.

Boris Becker hat in seinem Leben so ziemlich alles erlebt: Weltruhm und Heldenstatus, Skandale und tiefen Fall. Seit seinem Karriereende als Profisportler scheitert er gerne öffentlich. Das fing an mit dem schicksalhaften Tag 1999, kurz nachdem er sein offiziell letztes Tournier spielte, und sich mit seiner hochschwangeren Frau Barbara so zerstritt, dass er sie alleine ins Krankenhaus fahren ließ. Kurze Zeit danach ging Boris in London schick essen und schwängerte Angela Ermakova im Treppenhaus. Allein für die Popularisierung des schönen Begriffes „Samenraub“ ist ihm die Nation zu Dank verpflichtet. Danach folgte die Scheidung von Barbara, ebenfalls öffentlich, zahlreiche kurzlebige Beziehungen und Affären und die Blitzverlobung mit der 25-jährigen Sandy, der Tochter seines verstorbenen Managers. Er habe sich da in jenem Sommer „leicht verlaufen“ sagte Becker, als er nach dem Beziehungsende bei Thomas Gottschalk auf der Couch saß. Knapp ein halbes Jahr später wollte er dann doch heiraten – allerdings lieber seine Ex-Freundin Lilly Kerssenberg, mit der er zuvor per SMS Schluss gemacht hatte. Großes Tennis.

Auch seine Versuche, sich eine stabile Karriere abseits des Tennisplatzes aufzubauen, glückten nicht so richtig. Das neue Jahrtausend begann noch selbstironisch mit: „Ich bin ja schon drin“, danach versuchte er sich an diversen Geschäftsdeals, am Bücherschreiben, im Online-Poker (er ist Botschafter der Poker-Website PartyPoker) und einem insolventen Internet-Portal. 2002 wurde er der Steuerhinterziehung bezichtigt. Auch als Trainer von Novak Djokovic trat er mittlerweile zurück. Jetzt ist Boris Becker angeblich zahlungsunfähig und hochverschuldet. Seine Aktionen lassen sich also eher mit „Facepalm“ als „Matchball“ übersetzen.

Boris' Scheitern nimmt mir den Druck, ab einem gewissen Alter mein Leben perfekt im Griff haben zu müssen

Dass er dafür jetzt öffentlich angeprangert wird, mag vielleicht auch an seinem Alter liegen: Mit Ende 40 scheint Boris noch immer in der Quarterlife-Crisis zu stecken. Irgendwie auch verständlich:

Bei seinem ersten Wimbledon-Sieg war er 17, beim Rücktritt vom Tennis Anfang dreißig. Bobbele musste sich in der echten Welt zurechtfinden – und war überfordert. Damit hat er mich seit meinen Zwanzigern begleitet. Denn während ich versuchte, mich für oder gegen den Studienabbruch, für einen Job, einen Mann oder eine Stadt zu entscheiden, half es zu sehen, dass es auch meinem Kindheitshelden nicht besser ging. Klar, er hatte dabei ein paar Millionen mehr in der Tasche, als der durchschnittliche Mittzwanziger, aber weder sein Geld noch seine Kontakte schienen ihm bei der Sinnfindung wirklich zu helfen.

Dafür bin ich Boris dankbar. Sein Scheitern nimmt mir den Druck, ab einem gewissen Alter mein Leben perfekt im Griff haben zu müssen. Und während viele andere ihr Scheitern lieber VW-mäßig unter den Tisch kehren, vermittelt mir Boris stets dagegen: Scheitern ist ok. Häme hat er, wie die Kollegen von der Zeit richtig anmerken, deswegen nicht verdient. Obwohl er in seinem Leben Überdurchschnittliches geleistet hat, hat er eben auch überdurchschnittlich oft daneben gehauen. Und das ist für mich realistischer als viele glattgebürstete Lebensläufe es heute vorgeben zu sein.

Natürlich hoffe ich, dass ich mit 40 nicht mehr Boris Becker verhalte und Trennungs-SMS verfasse. Aber was ich dann auch können will: Zugeben, dass ich mich verrannt habe. Und weitermachen. Scheitern sportlich zu nehmen. Immer wieder postet Boris Motivationssprüche auf Twitter. Während die Welt am 7. Juli, dem Tag seines ersten Wimbledonsieges, seine Zahlungsunfähigkeit diskutiert, posierte er mit einem Greifvogel. Am Wochenende teilte er ein Familienfoto, Kommentar: „So muss ein Sonntag sein!“ Zuletzt verklagte ihn sein ehemaliger Geschäftspartner auf 40 Millionen Franken – Becker postete ein Foto seiner unehelichen Tochter Anna. Sein Kampfgeist macht nicht nur Mut, sondern ist auch unterhaltsam.

Man kann sich von ihm auch abgucken, was in Krisenzeiten hilft. Immer wieder erinnert er seine Fans an die wichtigsten Dinge im Leben: Kinder und Familie. Auch wenn zwei seiner vier Kinder nicht in London, sondern mit seiner Ex-Frau in L.A. leben. In einem Interview mit dem Guardian sinniert er: „Mein Name ist wahrscheinlich bekannter auf der Welt, als Twitter oder Facebook.“ Ohne dieses mehr als gesunde Selbstbewusstsein wäre er nach seinen Pleiten vermutlich nicht so schnell wieder auf den Beinen. Sich in harten Zeiten auf vergangene Erfolge zu besinnen, ist zumindest nicht die schlechteste Taktik.

 

Seine nächste Geschäftsidee hat Boris übrigens auch schon: die Gründung einer Boris-Becker-Tennisschule in China. Der Mann bleibt sich treu. Ich finde das beruhigend. Boris Becker hat auch keinen Plan, macht aber trotzdem weiter. Wir, der Bum-Bum und ich, glauben daran: Irgendwann wird‘s schon klappen.

 

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