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Unsere Aufmerksamkeit ist eine Waffe

Illustration: Veronika Günther.

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Terroristen, Amokläufer, Populisten, sonstige Idioten: Alle haben sie eines gemeinsam. Alle leben sie von unserer Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist damit heute nicht nur eine Währung, kostbarer als Gold. Sie ist auch unsere größte Schwäche. Und damit gleichzeitig: unsere mächtigste Waffe. Zeit, sie als solche zu begreifen und zu benutzen.

Das geht erstens durch das Durchschauen der Mechanismen. Zweitens durch vier einfache Fragen. Und ist drittens sehr dringend. 

Wir rennen in einem Hamsterrad der Panik

Denn einerseits missbrauchen sonst Terroristen und Amokläufer die soziale Medien dauerhaft als emotionale Massenverunsicherungswaffen. "Die einen, um Schrecken, Angst und Panik zu verbreiten und unsere Gesellschaft bis ins Mark zu erschüttern. Die anderen, um sich den größtmöglichen spektakulären Abgang zu verschaffen", wie es Udo Röbel, ehemals Chefredakteur der Bild, auf Facebook ausdrückte. Er muss wissen, wie das Geschäft mit der Aufmerksamkeit läuft. Er stieg 1988 in das Auto des Geiselnehmers von Gladbeck, um möglichst viel der tödlichen Spannung zu seinen Lesern zu transportieren.

Andererseits können wir unserer Aufmerksamkeit längst nicht mehr vertrauen. In Stunden wie denen am vergangenen Freitagabend in München, als die Polizei von flüchtenden Tätern ausging, spielt uns unsere Wahrnehmung Streiche. "Hyperreagibilität" nennt das der Mediziner. Weil wir unter kollektivem Schock stehen, klingt auf einmal jede zuknallende Tür wie der tödliche Schuss eines Terroristen.

Gegen die Folgen kann man wenig tun. Wenn zwei Stunden nach einem Angriff jemand irgendwo einen Schuss meldet, muss die Polizei reagieren. Und zum Schutz der Bürger Präsenz zeigen, Plätze räumen, medial informieren. Woraufhin wieder mehr Leute vermeintliche Schüsse hören. Online setzt sich diese Hyperreagibilität fort. Man will warnen und teilhaben. Diese geballte Aufmerksamkeit mündet in Aufmerksamkeitsfehler, die mehr Aufmerksamkeit anziehen. Ein Hamsterrad der Panik. Hyper, hyper!

Mit dieser Ansteckbarkeit spielen wiederum Trittbrettfahrer und politische Spalter, die jeden Einzelfall zu instrumentalisieren versuchen. Und wir, hyperreagibel, helfen ihnen noch dabei. Jeder Quatsch von Rechtsaußen wird von Leuten, die sich darüber empören, tausendfach weiterverbreitet. "Schaut mal, wie diese Schweine das jetzt schon wieder instrumentalisieren", rufen sie. Und instrumentalisieren dabei indirekt mit. Während sie doch eigentlich wollen, dass der Quatsch ausstirbt, helfen sie ihm zu überleben.

Stell dir vor es ist Terror, und keiner schaut hin?

 

Also folgt nun der zwanzigste Aufruf, sich online zurück zu nehmen? Cool zu bleiben? Nein. Weil wir das gar nicht können. Eine "Heroische Gelassenheit“ angesichts des Terrors forderte der Politikwissenschaftler Herfried Münkler schon vor Jahren. Als Ideal ist sie sicher sinnvoll. Als Krisenreaktion unmöglich, weil widersprüchlich. Wer eine Krise meistern will, der kann nicht gelassen bleiben. Er muss etwas tun. Er muss sich zumindest seiner Selbstwirksamkeit versichern. Künstliche Schockstarre? Können wir nicht. Weil sie die totale Ohnmacht wäre. Und deshalb unerträglich. 

 

Der Mensch muss auf Krisen hyper-reagieren. Das liegt in unseren Genen. Fühlen wir uns angegriffen, springt ein Notprogramm an. Vernunft ist darin nicht vorgesehen. Sie ist viel zu langsam. Erst einmal gibt es nur: Flucht oder Gegenangriff. Das hat der Psychologe Daniel Kahnemann gemeint, als er von einem „Reptiliengehirn“ schrieb, das bei einem Angriff das Kommando übernimmt. Dank Adrenalin und Dopamin durchfliegen wir berauscht den Schock, zu dem unsere wie unter einem Brennglas fokussierte Aufmerksamkeit gerinnt. Scooter fragt in „Hyper, Hyper": Do you like it hardcore? Unsere Natur antwortet: Ja, manchmal schon. Im Kollektiv sowieso.

 

So muss auch der Journalist etwas schreiben, senden, sagen. Nicht nur, um Geld zu verdienen. Sondern vor allem, weil er ausgebuht wird, wenn nicht. Wenn die ARD sofort Sondersendungen einlegt, wie an diesem Freitag zu München, beschwert sich das Publikum über die leere Dauerbestrahlung. Wenn nicht, wie in den ersten Stunden des Putsches in der Türkei, beklagt man ein Sendeloch. „Wir können nicht nicht kommunizieren“, münzte Jochen Wegner, Chefredakteur von Zeit-Online, nach dem Amoklauf von München das berühmte Axiom von Paul Watzlawick auf die Journalisten um. Und natürlich ist auch dieser Text paradox, wenn er über Aufmerksamkeit und ihre sinnvolle Verwendung nachdenkt, indem er Aufmerksamkeit bindet. 

 

Das zentrale Problem ist aber: Der Terrorismus versucht per definitionem, uns nicht ignorierbare Gräuel und Sinnlosigkeiten zu zeigen. Stell dir vor es ist Terror, und keiner schaut hin? Funktioniert nicht. Es bleibt eine philosophische Frage, ob es überhaupt Terror gäbe, wenn wir nicht hinschauten. Ob wir ihn einfach ausschalten könnten, wenn wir unseren Blick darauf ausschalteten.

Wir müssen aber leider immer zumindest ein wenig hinschauen. Ihn als unmenschlich zu erkennen und abzulehnen, dazu zwingt uns unsere Menschlichkeit.

Wir können nicht ignorieren. Aber besser ignorieren.

 

Wichtig ist aber auch: Bei unserer momentan potenzierten Aufmerksamkeit geht es nur vordergründig um das Erfassen und Verstehen von Wirklichkeit. Eigentlicht geht es um das Gegenteil: das Verschleiern. Wirklich zu begreifen, dass gerade jemand neun Menschen und sich selbst getötet, eine Millionenstadt in Aufruhr versetzt und damit weltweit Schlagzeilen gemacht hat, darüberhinaus das Verstehen der Implikationen dieser Tat, die Willkür, die Grausamkeit – es wäre unmenschlich. Das will und kann niemand. Wir wollen nur irgendwie verdauen und wieder ausscheiden, was eine gesunde Psyche nicht verwerten kann. Und diesen spontanen Verdauungsmechanismus können wir bewusster steuern.

 

Ja, das ist schwer. Aber es beginnt mit einer simplen Feststellung: Wir sind keine Opfer. Wir können etwas tun. Wiederholen wir die entscheidende Frage noch einmal: Was haben Terroristen, Amokläufer, Nachahmungstäter und Populisten gemeinsam? Sie alle leben von unserer Aufmerksamkeit. Je weniger Aufmerksamkeit, desto schwächer sind sie. Es wird Zeit, uns dieser entscheidenden Ressource neu bewusst zu werden. Alles Böse ganz zu ignorieren, das geht nicht. Aber besser ignorieren, das geht. Indem wir immer wieder überprüfen: Ist es wichtig, dass ich meine Aufmerksamkeit in diesem Moment auf diesen Punkt lenke? Was bewirkt sie dort? Wem tut sie gut? Mir? Jemand anderem? Wo könnte sie Besseres bewirken?

 

Eine Karikatur, die mometan herumgeht, zeigt einen Fernseher und einen Nachrichtensprecher, der aufgebracht fragt: "Wie können wir nur die Terrorangst vermindern?" Der Zuschauer macht den Fernsehen einfach aus. Medienprofessor Bernhard Pörksen nennt das die "redaktionelle Gesellschaft", die wie eine Redaktion sorgfältig mit Informationen umgeht. "Achtsamkeit", nennen das die Buddhisten. Das Wort ist nicht umsonst der Aufmerksamkeit sehr nahe. Nur statt merken gilt dabei eben achten

 

 

Wir könnten also zum Beispiel auf diese vier Fragen achten:

 

1. Worauf liegt meine Aufmerksamkeit gerade?

Bei einem Anschlag oder Angriff, egal welcher Art, ist die Nachrichtenlage meistens eher unklar. Je weniger es zu wissen gibt, desto mehr starren Menschen aber auf das Unklare, Unfassbare, Ungute. Und projizieren es oft – "was kommt bloß als nächstes?" – in die Zukunft. Sich dieses Fokus' bewusst zu werden, ist ein erster Schritt. Das gilt auch für schlimme Aussagen, die viel Aufmerksamkeit binden. Dass ich schon wieder jemandem zuhöre, dessen Meinung ich verachte, ihm dadurch immer mehr Aufmerksamkeit verschaffe – kaum habe ich das erkannt, höre ich schon auf damit. 

 

2. Was macht das mit mir? Was macht das mit der Welt?

Die meisten schlimmen Ereignisse machen mich traurig, wütend, ängstlich. Das ist nicht gut. Meine Welt wird schlechter dadurch. Bis hierhin eine Binse. Und ziemlich passiv. Aber: Ich mache die Welt der anderen schlechter, wenn ich meine Gefühle reflexartig in die Welt schicke. Ein empörter Post, eine panische SMS an alle meine Freunde helfen mir – geteiltes Leid, halbes Leid – vielleicht kurzfristig. Den anderen aber nicht. Im Gegenteil. Wenn ich den Schrecken und Hass, den andere in die Welt tragen, weiterverbreite, mache ich die Welt schlechter statt besser. Und wenn ich einem Amokläufer, der für Aufmerksamkeit tötet, Aufmerksamkeit schenke, motiviere ich Nachahmer.

 

3. Worauf könnte ich meinen Blick stattdessen richten?

Was wäre sinnvoller, schöner, hilfreicher? Muss ich vielleicht noch abspülen? Oder habe ich ein spannendes Buch? Oder schreibe ich jemandem, bei dem ich mich lange nicht mehr gemeldet habe, eine ausführliche Mail? Was nach wenig praktikablen Ratschlägen aus der Apotheken Umschau klingt, schafft wichtige Pausen für unsere überlasteten Gehirne. Alles ist besser als Hysterie. Selbst banale Aufmerksamkeitsziele tun mir und meiner Umwelt vermutlich besser als alles, was ich im Dauerfeuer aus den Nachrichten erfahren kann; sind hilfreicher als alles, was ich daraus weitersenden kann. Wie sehr schadet es den Petrys und Wagenknechts dieser Welt, wenn man sie ignoriert?

Das taugt nicht als Dauerkonzept. Nicht als feige Vogelstrauß-Strategie gegenüber der Welt. Aber mal eine Stunde.  Oder zwei. Durchatmen. Denken. Agieren statt reagieren. Oder eben auch mal gar nichts tun. 

 

4. Warum?

Achtsam mit der eigenen Aufmerksamkeit umzugehen heißt nicht, sich zu verkriechen oder in eine schöne Phantasiewelt zu fliehen. Sondern vor und nach einer Krise ganz bewusst die Aufmerksamkeit auf die Ursachen und das Warum dieser Krisen zu lenken. Politisch zu sein in einer unruhigen Zeit bedeutet nicht, bei jeder Eilmeldung aufzustöhnen. Sondern zwischen den Eilmeldungen nachzudenken, was man ändern kann. Das fängt, wie immer, bei mir selbst an. Mit dem besseren Ignorieren. 

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