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"Man muss sich Islamisten als glückliche Menschen vorstellen"

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Illustration: Julia Schubert

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„Wir reden bei Radikalisierung grundsätzlich von einem Jugendphänomen“, sagt Ahmad Mansour. Der Islamismusexperte ist als junger Palästinenser in Israel beinahe selbst radikaler Islamist geworden. Obwohl er aus einem aufgeklärten, liberalen Elternhaus kam.

Als Psychologe lebt Mansour seit zehn Jahren in Deutschland und beschäftigt sich mit Projekten und Initiativen, die Extremismus bekämpfen und Demokratie und Toleranz fördern. Außerdem ist er Programme Director bei der European Foundation for Democracy in Brüssel, Gruppenleiter bei Heroes, einem Projekt gegen Gewalt und Unterdrückung im Namen der Ehre, und Familienberater bei Hayat, einer Beratungsstelle für Deradikalisierung.

Gerade ist sein Buch „Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen“ erschienen.  

jetzt.de: Erinnern Sie sich noch daran, wie sich Ihre eigene Radikalisierung angefühlt hat?

Mansour: Natürlich. Das lief nicht von heute auf morgen. Es war ein Prozess. Aber einer, und das ist sehr wichtig, der mich glücklich gemacht hat. Ich war ein Mensch, der endlich Freunde gefunden hatte, der endlich eine Aufgabe hatte. Und eine Möglichkeit, sich von seinem Elternhaus abzugrenzen. Ich gehörte auf einmal zu einer Elite. Alles emotional sehr positiv.

Moment, man muss sich Islamisten also als glückliche, als erfüllte Menschen vorstellen?

Na ja, sie haben zunächst das Gefühl, angekommen zu sein, sich befreit zu haben, neu geboren zu sein. Plötzlich eröffnen sich ihnen viele neue Chancen und Möglichkeiten. Aber das ist kein Dauerzustand. Es ist eine Art Anfangshoch, auf das aber bald extreme Belastungen folgen. Es verlangt einem Menschen schließlich viel ab, eine Ideologie zu leben. Das sind strenge, teilweise brutale Anforderungen. Denen gerade im Alltag gerecht zu werden, kann aufreibend sein.

Gibt es wiederkehrende Motive bei der Radikalisierung?

Grundsätzlich gilt: Diejenigen, die uns monokausale Erklärungen liefern, haben das Problem nicht verstanden. Es gibt sehr unterschiedliche Gründe, die zur Radikalisierung führen können. Die wirken für sich betrachtet, das sieht man ja bei mir, möglicherweise banal. Jugendliche können in der Radikalität eine Identität suchen oder eine Vaterfigur – oder auch nur etwas, das ihren Alltag strukturiert. Sie wollen sich befreien oder durch die Ideologie eine Art von Aufwertung erfahren. Was wohl die meisten eint: Sie waren vorher unzufrieden. Sie haben eine Last mit sich herumgetragen. Und sie haben durch die Ideologie das Gefühl bekommen, von dieser befreit zu werden. Neu anfangen zu können. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sind bestimmte soziale oder politische Milieus dafür besonders anfällig?

Nein, das kann jeden treffen, unabhängig von Schicht und Bildung – mit oder ohne Migrationshintergrund.

 

Und radikalisieren sich junge Menschen anders als Erwachsene?

Wir reden bei Radikalisierung grundsätzlich von einem Jugendphänomen. Natürlich radikalisieren sich auch Ältere. Aber das große und entscheidende Problem sind die Jugendlichen. Und das Alter geht bei denen immer weiter runter. Vor ein paar Jahren haben wir grob über 18- bis 27-Jährige geredet. Heute geht das immer öfter schon mit 15-Jährigen los.

 

Warum?

Weil es viel einfacher ist, an sie heranzukommen. Sie sind oft noch orientierungsloser und weniger gefestigt.

 

Weiß man, wie sich der Schritt zu Gewalt und Mord vollzieht?

Ganz klar: Nein. Das weiß man nicht. Aber das ist meiner Meinung nach auch erst mal nicht entscheidend. Wichtiger erscheint mir der Hinweis, dass auch die Menschen, die noch nicht gewalttätig sind, nicht harmlos sind! Menschen, die in einer Gesellschaft leben, deren Werte sie ablehnen oder bekämpfen, sind eine Gefahr für uns. Wir reden hier von Leuten, die einen Buchstabenglauben an religiöse Schriften haben und sich damit entmündigen. Sie geben die Verantwortung für ihr Handeln ab. Ein hochgefährlicher Prozess, der natürlich zu bewaffneter Gewalt führen kann – besonders, wenn die Opfer- und Feindbilder, die sie vermittelt bekommen, mit extremen Emotionen besetzt werden. Leider entwickeln wir immer erst dann ein Problembewusstsein, wenn das passiert ist. Wenn es Anschläge gab. Das Problem beginnt aber viel früher: an den Schulen, auf den Straßen. Da müssen wir die Jugendlichen erreichen. Diejenigen, die bereits Anschläge verüben wollen, sind für uns verloren. Die müssen wir mit dem Sicherheitsapparat bekämpfen.

 

Wenn sich ein Mensch wirklich radikalisiert hat, kommt man als Gesellschaft also nicht mehr an ihn ran?

Kaum. Viel einfacher ist es, die Jugendlichen vorher zu erreichen. Bevor die Salafisten das tun.

 

Was braucht es da?

Umdenken.

 

Von wem?

Uns allen! Das, was wir gerade machen, ist zu einfach, und es erreicht die Jugendlichen zu wenig. Wir müssten die Schulen reformieren, damit wir dort Radikalisierungstendenzen erkennen. Wir müssen die Jugendlichen in den Schulen für Demokratie und Menschenrechte begeistern. Wir müssen dort mit ihnen über aktuelle politische Themen reden. Wir müssen ihnen politisches und kritisches Denken beibringen. Und wir müssen unsere Sozialarbeit reformieren. Momentan ist die in den Siebzigern und Achtzigern hängengeblieben ist.

 

Was heißt das?

Dass Sozialarbeit beispielsweise viel zu wenig im Internet stattfindet. Wir müssen die sozialen Medien zurückerobern. Das sind inzwischen rechtsfreie Räume, in denen die Radikalen die Macht haben.

 

Das klingt jetzt sehr drastisch. Radikalisieren sich Menschen denn überhaupt im Netz, wie allgemein behauptet wird?

Ja und nein. Das Internet verstärkt das alles, weil es die Ideologien jederzeit zur Verfügung stellt. Aber es gibt immer auch Bezugspersonen im realen Leben. Und deshalb brauchen wir auch endlich eine mutige, ehrliche Islam-Debatte. Die Radikalisierung ist unser Kind. Das Ungeheuer ist unter uns entstanden. Es ist ein Teil von uns. Deshalb müssen wir in der Lage sein, einen Glauben, ein Islamverständnis anzubieten, das keinen Boden für Radikalisierung bietet.

 

Heißt das, die islamische Gemeinschaft muss sich ihrer Meinung nach hinterfragen?

„Gemeinschaften“ ist das zentrale Wort – im Plural. Es gibt DEN Islam nicht. Es gibt nur unterschiedliche Islamauslegungen. Und diejenigen, die Mahnwachen abhalten, die sind teilweise Teil des Problems. Sie mögen Gewalt und Terror ablehnen. Aber wenn sie ein Islamverständnis predigen, das auf der Tabuisierung von Sexualität basiert, auf Geschlechtertrennung, wenn sie einen Gott predigen, der nur bestraft und mit der Hölle droht, wenn sie Schwarz-Weiß-Bilder vermitteln, wenn sie Opfer- und Feindbilder schaffen, wenn sie bei der heiligen Schrift buchstabentreu bleiben, statt sie zu kritisch und historisch zu interpretieren und den Jugendlichen damit die Möglichkeit verwehren, Zweifel zu haben und kritisch zu hinterfragen: dann ist es ein Islamverständnis, das oft die Basis schafft, auf der die Radikalen ihre zukünftige Ideologie aufbauen können.

 

Kann ich etwas tun, wenn ich merke, dass ein Freund sich radikalisiert? Viel! Man kann sich Hilfe suchen. Es gibt Beratungsstellen, die man anrufen kann. Man kann die Eltern auf seine Sorgen aufmerksam machen. Und man kann – und das ist sehr, sehr wichtig – den Kontakt halten. Nachfragen, wie es dem Menschen geht. Emotionalität wiederherstellen. Wenn der Kontakt abbricht, wenn man kein Interesse mehr zeigt, führt man diese Menschen direkt in die Hände der Salafisten.

 

Meint das auch, die Diskussion zu suchen, zu widersprechen bei radikalen Thesen?

Nein, nein. Keine großartigen theologischen Gespräche. Das bringt nichts. Man muss Interesse zeigen. Das kann natürlich auch mal über kritische Frage passieren. Aber die emotionale Bindung ist viel wichtiger.

 

Was sind Anzeichen, dass ein Mensch sich radikalisiert?

Am auffälligsten ändert sich die Rhetorik. In Gesprächen, aber auch beispielsweise bei Facebook-Posts. Man muss sehen: Verändert sich seine Argumentation? Zieht er sich bei bestimmten Themen ganz zurück? Ändert sich das Verhalten dem anderen Geschlecht gegenüber? Dafür muss man aber natürlich tiefergehende Gespräche führen. Nur auf die Kleidung zu schauen, wie das viele leider tun, genügt nicht.

 

Heißt aber auch: Wenn jemand bereits in radikalen Strukturen drinsteckt, bekomme auch ich als Freund ihn da nicht raus?

Kaum. Umso wichtiger ist es, das vorher zu tun.

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