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Aufstand der Anzugträger

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Angestrichen:
Zur nächsten “Freiheit statt Angst” werde ich meinen Anzug aus dem Schrank holen und dazu ein gebügeltes Hemd tragen. Ich kokettiere sogar mit einer Krawatte (übrigens einst ein Symbol der französischen Revolution). Sodann werde ich mich vorab mit Gleichgesinnten abstimmen, die sich auch entsprechend in Schale werfen wollen, so dass wir zusammen einen möglichst großen Anzugträger-Block innerhalb der Demo stellen.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Wo steht das denn?
In einem Blogeintrag des Berliners Michael Bukowski. Bukowski ist, so schreibt er auf seiner Webseite, „freier Konzeptioner, Texter, Redakteur, Autor und überhaupt“, außerdem ist er den Piraten wohl gesonnener Internetmensch.  

Worum geht es da?
Um mehrere Dinge gleichzeitig. Sein Blogeintrag ist Teil einer Debatte, die am Wochenende begonnen hat, es geht darin um Vorurteile, Kleiderordnungen, um Demonstrationskultur und den NSA-Skandal. Doch von vorne: Am Samstag protestierten in Berlin circa 15.000 Menschen bei der „Freiheit statt Angst“-Demonstration gegen Überwachung, Vorratsdatenspeicherung, die NSA-Methoden und die Rolle, die die Bundesregierung in all diesen Bereichen spielt (beziehungsweise nicht spielt). Einen Tag später begann auf Twitter eine Diskussion unter einem Tweet von Birgit Rydlewski, Piraten-Abgeordnete im Landtag von Nordrhein-Westfalen, der mit dieser Demo eigentlich rein gar nichts zu tun hatte. Sie schrieb:

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Weil es unter Piraten schon ein Reflex zu sein scheint, für alles, was irgendwie auch nur ansatzweise skandalisierbar ist und Shitstorm-Potenzial hat, einen eigenen Hashtag mit der Endung -gate zu erfinden, war auch diesmal ganz schnell einer gefunden: #anzuggate. Anzugträger pauschal als Kapitalisten zu bezeichnen, das gehe nicht, das sei im Prinzip auch nichts anderes, als eine Frau zu diskriminieren, weil sie ein Kopftuch oder einen Minirock trägt – so lauteten die ersten Vorwürfe. Die Diskussion weitete sich aus. Es schrieben Anzugträger, die sich beleidigt fühlten, weil sie sich trotz ihrer Vorliebe für Anzüge (oder trotz ihres Jobs, in dem sie einen tragen müssen) nicht als Vertreter eines kapitalistischen Patriarchats sehen. Sie trafen auf Anzugträgerbashing und betrieben ihrerseits Anzugträgerbashing-Bashing. Die Diskussion schwoll an, und zack, da war wieder eine der Endlosdebatten auf Twitter, die den Piraten den Ruf einer zerstrittenen Chaostruppe eingebracht hat. Auch das wurde sogleich thematisiert.  

Bis hierhin also: same procedure as every Piraten-Hashtag-Gate und eigentlich nicht weiter erwähnenswert. Wäre da nicht der Blogeintrag von Michael Bukowski, der die Anzugdebatte mit der Demonstration von Samstag in Verbindung bringt und damit eine mögliche Ursache für das zentrale Problem der Anti-NSA-Proteste entlarvt. Das Problem besteht darin, dass die Proteste nicht an Fahrt gewinnen und Piraten und Datenschützer die Gesellschaft nicht ausreichend mobilisieren können. Obwohl der NSA-Skandal Woche für Woche eine noch größere Dimension erreicht und das Thema eigentlich jeden etwas angeht, kamen zu der Demo am Samstag gerade mal 15.000 Menschen. Eine Ursache dafür, so Bukowski, könnte die Art und Weise sein, wie diese Proteste ablaufen und wie die Demonstranten auftreten.

Auf der Demo habe er „abgestandenen sinnlosen Geifer gegen ‚Bullen’ und für irgendeine ‚Revolution’“ gehört. Ein Thema, das eigentlich alle interessieren müsste, wird so vermengt und verwässert, mit Parolen, die viele abschrecken: „Das eigentlich das ganze Volk angehende Thema wird somit von der seit Jahrzehnten tradierten Folklore okkupiert und dadurch gründlich entwertet. Wenn ich den üblichen Haufen aus der Sicht eines braven Offline-Bürgers sehe, fühle ich mich voll und ganz darin bestätigt, dass dieses Thema mich nicht betreffen kann. Ich sehe stattdessen Leute, die in ihrer antikapitalistischen Hüpfburg herumtollen wie eh und je. Souveräner kann man sich selbst nicht ins Knie schießen und die Sache sabotieren.“  

Um wirklich etwas zu erreichen, muss man auch die überzeugen, die nicht ohnehin schon überzeugt sind, weil sie der vielzitierten „Netzgemeinde“ angehören oder einer linken Gruppierung, die gegen alles wettert, wo sich der Stempel „Überwachungsstaat“ draufdrücken lässt. Man braucht auch die Mittelständler, die Beamten, die Bank-Azubis, die BWL-Studenten. Die Anzugträger eben. Die bekommt man aber nicht, wenn man sie anschreit und von vornherein ausgrenzt. Egal, ob mit einem Tweet oder auf einer Demo.         



Text: christian-helten - Foto: fransuess / photocase.com

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