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Gefährlicher Konsens

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Angestrichen
"Denn der sicherste Weg, um sich im öffentlichen Onlinediskurs nicht die Finger zu verbrennen, ist die Übernahme aller internetspezifischen Populärmeinungen und der Verzicht auf jede Äußerung, bei der mit einer massiven Opposition zu rechnen ist."

Wo steht das?
In einem Artikel des Blogs netzwertig.com, das über Trends, Phänomene und Entwicklungen im Internet und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft berichtet.

Worum geht es?  
Um die Auswirkungen von Shitstorms auf das reale Leben. Darum, dass unbedachte oder dumme Tweets immer häufiger von einem aufgebrachten Internet-Mob aufgeblasen und öffentlich zerfetzt werden. Und darum, dass dieses Phänomen langfristig unsere Demokratie gefährdet.

Bislang gilt das Internet in erster Linie als Chance, als Herausforderung für neue Formen der Demokratie, der Mitbestimmung und Meinungsvielfalt. Die Piratenpartei erlebte durch ihre Netzpolitik (zumindest kurzzeitig) einen Höhenflug, Themen wie Alltagssexismus oder die Arbeitsbedingungen bei Amazon wurden erst durch die Debatte im Netz öffentlichkeitswirksam.  

Der Autor des Blogeintrags, Martin Weigert, stellt dem nun in seinem Essay eine andere Entwicklung gegenüber: Er beschreibt, wie Meinungsäußerung in sozialen Netzwerken einem Konformitätsdruck unterworfen sei, der die Freiheit und Ungezwungenheit des öffentlichen Denkens bedrohe. Denn: Jeder will gemocht werden. Hungrig begeben wir uns auf Twitter und Facebook auf die virtuelle Suche nach Likes und Sympathiebekundungen. Wir schwimmen mit dem Strom, liken, retweeten und reposten das, was unsere Freunde am ehesten gut finden werden. Wenn sich aber, wie im vergangenen Jahr, in immer kürzeren Abständen Shitstorm an Shitstorm reiht, wächst die Furcht, selbst durch Meinungsäußerungen am "virtuellen Pranger" zu landen, schreibt Weigert.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

 Unbedachte Äußerungen im Netz können im realen Leben weitreichende Folgen haben.

Und das nicht zu unrecht, wie zuletzt das Beispiel der PR-Beraterin Justine Sacco zeigte. Ihre unüberlegte Kurznachricht auf Twitter verbreitete sich vor Weihnachten per Retweet rasend schnell. Innerhalb weniger Stunden entluden sich Hasstiraden auf ihrer Seite, ihre Familie und ihr halber Freundeskreis distanzierten sich von ihr. Sacco selbst war indes ahnungslos auf einem Langstreckenflug unterwegs. Noch bevor sie auf ihren Fehler reagieren konnte, war sie zur öffentlichen Zielscheibe geworden - und ihren Job los.

Ähnlich erging es kürzlich einem Professor der New York University, der in einem Tweet an seine "übergewichtigen Promovierenden“ die Mahnung in die Welt schickte: "Wenn ihr es nicht schafft, keine Kohlenhydrate mehr zu essen, werdet ihr es auch nicht schaffen, eure Dissertation zu schreiben." Er wurde zwar nicht gefeuert, muss aber als Strafe einen Trainingsplan gegen Fettsucht entwickeln.

Die Folge von Fällen wie diesen, schreibt Weigert, sei eine wachsende Selbstzensur im Netz. Die fasste der berühmte Wissenschaftler und Kolumnist der New York Times, Paul Krugman, im Herbst treffend zusammen: Krugman hat mehr als eine Million Follower auf Twitter; trotzdem verfasse er seine Tweets nie von Hand. Ein Programm erzeugt sie automatisch anhand seiner Blogeinträge. Der Grund: Er habe vermehrt beobachtet, wie Menschen sich selbst, ihre Karriere und Existenz durch beleidigende, aber letztlich vor allem unbedachte Kurznachrichten zerstört hätten. Davor habe er Angst.

Und jetzt?  

Laut Weigert gibt es nur einen Ausweg aus diesem Dilemma. So einfach er klingen mag, so schwierig ist er in der Umsetzung, weil er die kritische Auseinandersetzung nicht nur mit anderen, sondern auch mit sich selbst erfordert. Die Lösung heißt ihmzufolge: Empathie. Und bedeutet konkret, nicht sofort die eigene Entrüstung über einen missglückten, dämlichen oder beleidigenden Tweet in einem eigenen Tweet zu verarbeiten und dadurch zu multiplizieren. Nicht sofort die eigene Meinung als alleingültige zu sehen. Lieber mal abzuwarten. Zu reflektieren. Ein Auge zuzudrücken. Und dadurch die Rache des Mobs zu zügeln. Schließlich hat jeder mal einen schlechten Tag.


Text: katharina-elsner - Illustration: Katharina Bitzl

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