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Mit dem Rucksack aus der Krise

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Angestrichen:  
Under these circumstances, it makes sense that we'd travel now, instead of saving travel for a future that is in no way guaranteed.

Wo steht das?  
In der Online-Ausgabe des US-Magazins The Atlantic.    

Worum geht es?  
Um die unersättliche Reiselust von uns "Millenials", also der heute 16- bis 34-Jährigen – und was die mit unserer Zukunftsangst zu tun hat. Unsere Reisegewohnheiten unterscheiden sich nämlich dramatisch von denen unserer Vorgänger, sagen verschiedene aktuelle Studien. Tenor: Monatelange Weltreisen sind heute überwältigend beliebter als je zuvor.  

Die Autorin Amanda Machado, mit 26 Jahren selbst mittendrin im Millenials-Pool, versucht nun, diesen Trend zu erklären. Mit einem erstmal widersprüchlichen Gedanken: Unsere Generation, bekanntermaßen krisengeplagter und mit weniger Aussicht auf Festanstellung und/oder einen gesicherten Rentenplan denn je, ist nicht trotz der wirtschaftlichen Widrigkeiten extrem reiselustig - sondern gerade deshalb. Wir reisen jetzt mehr, so die These, weil unsere Zukunft so ungewiss ist wie nie.  

Kurz die Zahlen der Marktforscher: 200 Millionen Touristen auf der Welt sind in unserem Alter, das ist jeder fünfte. Diese jungen Massen bescheren der Touristikbranche 180 Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr – ein Drittel mehr als noch 2007. Keine Gruppe wächst schneller und keine bleibt länger auf Reisen, nämlich im Schnitt 58 Tage.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Und tschüs! Je weniger uns die Arbeitswelt zu bieten hat, desto weniger sind wir bereit, Kompromisse dafür zu machen.

Fragt sich nur, wie man diesen Zahlenwald deutet. Zum Beispiel so, dass Erfindungen wie Airbnb, Couchsurfing oder Skyscanner das Reisen bequemer, günstiger und insgesamt weniger riskant gemacht haben. Junge Leute sind folglich deutlich offener gegenüber der Vorstellung, mit dem Rucksack tiefer in die weite Welt zu dringen als ihre Eltern. Anderer Aspekt: In immer mehr Schwellenländern wachsen die Löhne, da entstehen Heerscharen neuer Millenials, die plötzlich Geld für Rucksäcke und Flugtickets haben. Und weil die Backpacker-Industrie ohnehin nie stärker war, dritter Aspekt, ist eine Weltreise längst nicht mehr den Reichen vorbehalten.

Es gibt aber noch eine Meta-Erklärung und die lautet: Die Aussichten junger Leute auf dem Arbeitsmarkt waren selten so düster wie heute. Die Geldspeicher der Sozialversicherungen schmelzen angesichts der Überalterung, immer weniger Firmen zahlen Pensionen, immer weniger Firmen stellen überhaupt noch junge Leute fest an. Früher war der Ruhestand schon mit dem ersten Arbeitsvertrag im Großen und Ganzen abgesteckt, man wusste: Zwei Wochen Strandurlaub im Jahr sind drin, dafür arbeite ich 40 Jahre und habe dann einen goldenen, zumindest bequem aufgepolsterten Lebensabend. Heute kann keiner genau sagen, wie viel Geld ihm später mal zur Verfügung steht, und wenn doch, wieviel das dann noch wert sein wird. Immer mehr Leute ahnen: Könnte eng werden mit dem Häuschen am Strand, den weißgedeckten Brunchtischen und was die Fernsehspots der Rentenversicherer sonst so versprechen.  

Die Folge: Wir reisen lieber jetzt, als das Reisen auf später zu verschieben. Wer weiß, ob es später nicht finanziell noch enger wird. Und ob wir später nicht doch zu bequem sind, um noch in Achtbettzimmern zu schlafen und vier Stunden an guatemaltekischen Bushaltestellen zu warten.

Der Begriff Prokrastination, der uns Millenials und unserer neuen Laptop-Arbeitswelt ja sonst in jeder Feuilletonisten-Diskussion wie angegossen sitzt: Er scheint gerade beim Reisen völlig aufgehoben. Wir schieben da lieber nichts mehr auf später, weil da vielleicht nichts mehr kommt. Weil wir vielleicht draußen in der Welt auf neue Inspiration treffen. Und weil wir ohnehin eine neue Vokabel gelernt haben, die unseren Eltern noch unbekannt war: Work-Life-Balance. Denn wer nach der Uni erstmal zwei Jahre in einem 60-Stunden-Job gerödelt hat und merkt, wie wenig er von seinen Freunden noch zu Gesicht bekommt, zieht viel schneller die Handbremse als früher, als die Jobs zwar vielleicht auch nicht mehr Spaß machten, aber immerhin noch ein fester Rentenplan mit zum Paket gehörte.  

Je weniger die Arbeitswelt uns bietet, desto weniger bereit sind wir, Kompromisse dafür zu machen. Statt ein Jahr zu ackern für zehn Tage Strandurlaub jobben wir lieber quartalsweise und reisen dann drei Monate durch Kambodscha. Ob das langfristig die Situation verbessert, ist die Frage. Aber zumindest eines dürfte sich mit dem Trend ändern: Eine mehrmonatige Weltreise im Lebenslauf wird immer weniger zum Problem im Vorstellungsgespräch, je mehr junge Leute eine haben. Vorausgesetzt, sie werden irgendwann mal Personalchefs.

Text: lucas-grunewald - Foto: suze/photocase.de

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