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Paula

Text: irrgaertnerin
"Ich lese Judith Hermann gerne, weil ich die Sätze mag, in denen ich danach denke", sagt Paula zu mir, da gehen wir gerade die Straße hinauf, auf der kein Schnee mehr liegt. "Ich denke dann immer sehr distanziert von allen um mich herum und nehme meine Bewegungen aus einer Beobachterposition ein, weißt du? Also zum Beispiel, würde ich dann jetzt denken: Und dann gehen wir die Straße hinauf, die schief ist und das Mädchen neben mir, hat ein Stummfilmgesicht."

Paula bringt mich mit solchen Aussagen schon lange nicht mehr zum Lachen. Vielleicht hat sie das auch nie und ich will ihr eigentlich auch gar nicht unterstellen, dass sie das überhaupt will. Ich weiß selber nicht, was Paula eigentlich damit bezweckt.

"Ich habe noch nie einen Stummfilm gesehen", antworte ich und dass es bald wieder schneien soll und ob sie noch mitkommen will, auf eine Tasse Tee, gerne auch schwarz, gerne auch Kekse, Paula, sogar Kekse für dich, Paula. Und natürlich will sie das und will auch noch neue Fotos der albernen Exfreundin ihres Exfreundes im Internet suchen. "Weißt du", sagt sie dann, "ich habe begriffen: nichts an ihr ist besonders."

Da sitzen wir also, Paula und ich und die Fotos der Exfreundin, die wirklich nicht besonders aussieht und ich nippe an dem Tee, den Paula erst in fünf Minuten anfangen wird zu trinken. Zu heiß für ihre empfindliche Zunge, erklärt sie immer und die Lippen werden davon auch nur spröde. Ich reiche ihr Honig und suche mir Stricksocken. Ich winkle die Beine an und sage ihr: "Paula, wir sollten uns jeden Tag fünf Minuten aussuchen, die wir uns momentgenau einprägen und uns am Abend vor dem Schlafengehen am Telefon erzählen."

Ich weiß auch nicht genau, warum ich das sage, ich will gar nicht wissen, was Paula fünf Minuten lang genau macht. Ich befürchte, dass darin zuviel Internetrecherche und Zigaretten vorkommen, was mich langweilen würde und dann würde ich sie unterbrechen und alles endet dann jedesmal im Streit. Niemand schläft gut, niemand wacht gut auf, Paula würde noch mehr Kaffee brauchen und mir davon erzählen. Aber als mir diese Bedenken kommen, ist Paula längst restlos von meinem Vorschlag begeistert, sagt: "Auja" und schlägt mir auf den Oberschenkel.

Ich sitze in der Straßenbahn am nächsten Tag und sehe aus dem Fenster, ein altes Haus, reiht sich an das nächste, an der einen Haltestation küsst ein Mann eine Asiatin, die einen langen Rock trägt und ich denke: das habe ich noch nie gesehen. Asiatinnen die lange Röcke tragen. Und schon geht es weiter, Schienengeratter, ein Radfahrer überholt uns auf einem roten, alten Rennfahrrad, er trägt keine Handschuhe, er friert bestimmt. Als ich aussteige, denke ich an das Wochenende und dass Florian bald mal vorbeikommen soll, auf ein Glas Wein oder Orangensaft. Dann würde ich ihn fragen, ob wir mal wieder wegfahren, vielleicht über Pfingsten, das ist zwar noch lange hin, aber das wäre doch etwas.

Ich erzähle Paula abends davon und sie schweigt und seufzt, dann sagt sie: "Als ich Florian küsste, da waren seine Augen grün wie Moos und ich sagte ihm das und er freute sich nicht."

Und dann schweige ich und sage: "Paula, ich muss mich hinlegen." Und Paula sagt: "In Ordnung."

Ich sitze im Bett dann und denke nicht, nicht an Florian und nicht an Paula, auf der Seite liegend schlafe ich ein und wache ebenso wieder auf. An der Haltestelle stehe ich neben einem Kind mit einem Ballon, Paula ruft an, ich sage: "Noch zwölf Minuten, dann bin ich da."






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