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Heute bei Rewe

Text: Tastentiger
Zugegeben: Heute ist kein guter Tag, um mir über den Weg zu laufen. Die Woche war anstrengender als sonst und ich hab zu spät bemerkt, dass es keine gute Idee war, sich morgens um sieben im T-Shirt aufs Fahrrad zu schwingen und die anderen ökologisch korrekten in-die-Firma-Schnaufer, die bereits in Fleecepulli oder Gore-Tex unterwegs waren, beim Überholen wahlweise als „Weicheier“ oder „Warmduscher“ zu verhöhnen. Mein Körper ist müde, verschnupft, mein Hals kratzt und meine Ohren schmerzen. Ich bin brummelig, dünnhäutig, alles ist grade irgendwie zu viel und einkaufen muss ich auch noch. Scheiße.



Angenervt verlasse ich das Haus. Mit schweren Schritten schlurfe ich durch Nebel und feinen Nieselregen die Straße hinauf. Das Wetter ist so, als hätte ein melancholischer Landschaftsmaler mit Hang zum Suizid mein inneres Gefühlsleben in flinken Pinselstrichen auf die Leinwand gemalt. Ich könnte rüber zum Lidl fahren, da ist es billiger und mein Gesicht würde sich nicht anfühlen wie ein nebelfeucht gewischter Laminatfußboden, aber ich hab keine Lust und keine Kraft, jetzt auch noch das Auto zu bewegen. Da latsch ich lieber die paar Meter zu meinen kleinen Rewe an der Hauptstraße und reg mich ein bisschen übers Wetter und die etwas teureren Preise auf.



Angewidert schiebe ich mich durch die Menschenansammlungen an der Eingangstür. Mein kleiner Rewe liegt mitten im Zentrum des Stadtteils. Er ist mitnichten das, was man heutzutage unter einem Supermarkt versteht. Es gibt keinen mit verschwenderischen Blumenrabatten bepflanzten weitläufigen Parkplatz vor dem Eingang, keine mannshohe Neonreklame, keine Gänge mit der Spurbreite einer bundesdeutschen Autobahn. Mein kleiner Rewe führt weder koreanische Gewürze noch Jugendzimmermöbel. Wenn ich es mir genau überlege ist die Jet-Tanke ein paar Meter weiter unten besser sortiert als mein kleiner Rewe. In meinem kleinen Rewe haben die acht angerosteten Einkaufswagen vor der Tür das Fassungsvermögens eines Putzeimers. Das Angebot im Getränkelager umfasst vier Kästen Bier, weil mehr nicht reingeht und die Gänge sind so eng, dass die Einführung einer Einbahnstraßenregelung den Vorgang des Einkaufens um dreißig Prozent beschleunigen könnte. Ein Wunder, dass sie Scannerkassen haben. Sie geht nicht gerne in meinem kleinen Rewe einkaufen, bezeichnet ihn wahlweise als „schmuddelig“ oder „ranzig“.



Müde greife ich nach einem Einkaufskorb und quetsche mich vorbei an übernächtigten Studenten, ratschenden Rentnern und türkischen Hausfrauen mit Überbreite tiefer hinein in den Laden. Die Handgriffe sitzen, Milch, Brot, Eier, Chips, Tiefkühlpizza, was Mann halt so braucht, um ein Wochenende zu überleben. Hoffentlich kommt niemals irgendeiner auf die Idee, hier etwas umzuräumen. Am Regal mit den Putzmitteln biege ich um die Ecke Richtung Kasse und erstarre vor Schreck.



Kann das wahr sein?



Bin ich vor lauter Müdigkeit im Gehen eingeschlafen und träume ich?



Hab ich Fieber bekommen und phantasiere?



Ich versuche, durch meine halb geöffneten Augen das zu fokussieren, was vor mir steht. Es ist tatsächlich wahr. Es ist kein Traum.



Lebkuchen.



Heute ist der dreizehnte September und es gibt Lebkuchen. In meinem Rewe. Der wirklich letzten Lebensmittelladen dieser Galaxie, in dem es nichtmal frischen Orangensaft im Kühlregal gibt, hat im September bereits Lebkuchen im Sortiment.



Es gibt wahrlich genug Texte über Lebkuchen im September und Osterhasen im Januar, ich könnte es einfach mit einem Lächeln zur Kenntnis nehmen und weiterlaufen, aber heute geht das nicht. Nein - nicht heute. Mir gehts mies, der Sommer ist rum, es wird kalt und mein Hals kratzt. Jetzt auch noch Lebkuchen, das ist echt zu viel. Nicht, dass ich Lebkuchen nicht mag. Im Gegenteil, ich liebe Lebkuchen, aber könnt ihr marktbeherrschenden Discounterketten uns Konsumenten bitte nicht noch zwei Monate Schonfrist geben? Könnt ihr nicht an unsere armen Seelen denken, die grade aus dem Sommerurlaub zurückgekehrt sind und sich wehmütig wieder ans Arbeiten und die teutonische Witterung gewöhnen müssen? Verkauft doch noch ein paar Beachvolleybälle oder einen Restposten Strandliegen, um uns ein klein wenig in unserer behaglichen Urlaubsstimmung zu lassen. Küsst uns langsam wach mit ein paar „leichten Baumwollpullis für kühle Spätsommerabende“ oder Reflektoren für Schulranzen. Aber bitte keine Lebkuchen! Was soll das? Wollt ihr nicht gleich auch noch die Christbaumkugeln daneben stellen und „Rockin’ Around the Christmas Tree“ von Brenda Lee aus den quäkenden Lautsprechern auf uns herabrieseln lassen? Wie stellt ihr euch eigentlich vor, wie wir Verbraucher unser Leben leben? Neben meinem kleinen Rewe ist eine Eckkneipe, „Wir sind wieder nach dem Sommerurlaub für Euch da!“ steht auf einem handgeschriebenen Schild an der Einganstür. Glaubt ihr wirklich, dass da die noch-Malle-gebräunten Schnauzbartträger morgen Nachmittag auf dem Barhocker sitzen, im bis zum Bauchnabel geöffnetem Hawaiihemd Bundesliga gucken und sich bei Glühwein und Lebkuchen gegenseitig Urlaubsfotos von El Arenal zeigen?



Langsam erhole ich mich von meinem Schock, laufe behutsam an dem weihnachtlich dekorierten Pappregal vorbei und greife zu. Bahlsen Contessa, die guten, zwei Packungen, 1,49 das Stück. Wie gesagt, ich liebe Lebkuchen und die erste Packung hab ich schon während des Schreibens dieses Textes verputzt. Auf der Unterseite der leeren Schachtel steht: „Mindestens haltbar bis: 01.03.09“. Sechs Wochen später ist Ostern. Wenn ich kurz vor Silvester die letzten Vorräte abgreife, sollte ich bei guter Lagerung rein rechnerisch bis weit in den Juni hinein versorgt sein. Ich werde versuchen, mich die verbleibenden zwei Monate mit Schokomuffins über Wasser zu halten.






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