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Yitzhak Rabin - voll korrekt

Text: Tastentiger
Der 52er-Bus meiner Stadt ist sowas wie die Metro-Linie 2 in New York City. Er verbindet zwei der größten Stadtteile miteinander und durchquert dabei die übelste Gegend der Metropole – genau den Flecken auf der Landkarte, in dem die Firma, in der ich arbeite, ihren Sitz hat. Wenn ich älteren Menschen oder Freunden aus dem Umland erzähle, wo ich arbeite, schauen sie mich oft an, als läge die Stätte meines Broterwerbs wahlweise in Basra, Bagdad oder Bogotá. Zwar kann man das Gebiet seit mehreren Jahren als befriedet erachten, jedoch trübt der Vergangenheit langer Schatten noch heute das helle Licht der Gegenwart. Banlieuartige Hochhäuser legen Zeugnis über fragwürdige Siedlungspolitik im urbanen Raum ab, es gibt immer noch zu viele Graffiti, die nicht überstrichen sind und zu viele eingeschlagene Fensterscheiben, die nicht repariert wurden. Die Eckkneipen heißen „Blattlaus“ oder „Zum alten Hut II“ und sind nichts weiter als verrauchte höhlenartige dunkle Löcher, in denen schemenhaft zu erkennende ausgemergelte faltige Männer morgens um neun Uhr Schnaps trinken, während in der Dönerbude gegenüber die Messer gewetzt werden. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine Hundertschaft Verkehrskontrollen durchführt oder es im 52er eine Schlägerei gibt. War es anfangs noch dramatisch, beim Morgenkaffee im Büro von einem Faustkampf im Bus zu berichten, interessiert es heute höchstens nur, wer gewonnen hat. Derzeit liegen die Russen vorne, aber die Albaner holen auf.



Ich betrete den 52er an einer belebten Haltestelle, an der sich mehrere U-Bahn- und Buslinien kreuzen. Drei Viertel der Fahrgäste des 52ers tauschen hier das Verkehrsmittel, während das verbleibende Viertel versucht, wie bei der „Reise nach Jerusalem“ die besten Sitze im Bus zu ergattern. Ich quetsche mich in eine Nische neben der Tür. Mir gegenüber sitzt eine junge Frau, die mit der flachen Hand auf den freien Platz neben ihr schlägt und nach hinten ruft:



„Schaahaaaaz, setz dich hier her!“



Ein Mann Ende dreißig erhebt sich und wankt nach vorne. Obwohl der Bus noch steht, hat er Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Er trägt verdreckte weiße, leicht zerrissene Turnschuhe der Marke Reebok, eine abgewetzte schwarze Jeans, deren enge Röhren seine Beine wie vakuumverpackte Wiener Würstchen aussehen lassen, einen ausgeleierten dunkelblauen Pullover mit der Aufschrift „Athletic“, die dem Gesamterscheinungsbild des Herrn eine kontradiktive Note verleiht, darüber eine verwaschene Jeansjacke, in deren Innentaschen rechts und links jeweils eine Bierflasche stecken. Seine struppigen Haare werden unter einer weißen Baseballkappe versteckt, auf der ein großes rotes „A“ prangt. Während er sich in seiner Vorwärtsbewegung abmüht, wirft er sich einen staubigen schwarzen Rucksack aus störrischem Polymerkunststoff über den Rücken, einer der Art, wie man sie zu Probeabos von Zeitschriften geschenkt bekommt. Der Aufprall des Behältnisses auf seiner Wirbelsäule wird von dem Klingeln leerer Flaschen, die sich im selbigen befinden müssen, begleitet. In der Hand hält er einen Mediamarkt-Prospekt.



Er quetscht sich neben seine Partnerin auf die schmale Sitzfläche des Plastikgestühls. Diese starrt gebannt auf ihr Handy und drückt hektisch auf den Tasten herum. Offensichtlich ist ihr warm, über ihrem Schoß liegt eine dicke weiß-rote Winterjacke und ein grauer Strickpulli. Sie hat blondierte schulterlange Haare, die vermutlich gestern auch nicht gewaschen wurden und trägt ein zu enges und zu kurzes rosa T-Shirt, an dessen Ende sich munter das Hüftgold über den Gürtel ihrer hellen 80er-Jahre Jeans hinauswölbt. Mangels BH zeichnet sich an ihrem rechten Busen deutlich ein Brustwarzenpiercing ab, die Hälfte eines Tattoos streckt sich ausgehend vom anderen zu ihrem Hals hinauf. Passend zur Hose trägt sie Cowboystiefel mit Jeansstoffapplikationen.



„Guck mal!“, sagt der Mann und rammt ihr seinen Ellenbogen in die Seite.



„Nee, jetzt nicht!“, blökt sie zurück. Tonfall und ein schwerer Zungenschlag lassen vermuten, dass beide heute bereits Alkohol getrunken haben.



„Jetzt guck mal!“, sagt der Mann.



„Nee!“



„Mönsch guck halt mal!“, ruft er erneut und setzt dabei zum Nachdruck seiner Forderung erneut den Ellenbogen, diesmal kräftiger, ein.



„Iiihhhh!“, quiekt die Frau schrill auf, „jetzt hab ich wegen dir ein Leben verloren!“



„Weißt du was?“, murrt der Mann und schaut ihr tief ins Gesicht, „des is mir scheißegal.“



„Ich wollt des Spiel sowieso nicht mehr weiterspielen“, sagt sie trotzig und klappt ihr Handy zu. „Was ist denn?“



„Schau mal hier das Handy“, sagt der Mann, „voll viel mehr Speicher und die Kamera is auch besser. Nur null Euro. Das hol ich mir. Voll geil.“



„Aber des geht doch gar nicht“, antwortet sie. „Da brauchst du doch nen Vertrag. Guck hier – Vodafone. Und wir sind doch schon bei O2.“



„Wie – dann geht das gar nicht?“, frag der Mann enttäuscht.



„Nee, das geht nicht.“



Traurig knüllt er den Prospekt zusammen und wirft ihn zornig mit Wucht auf den Boden. „Oh Mann, das scheißt mich jetzt voll an mit dem scheiß Handy!“, brüllt er durch den Bus.



„Wo sind wir hier eigentlich?“, fragt er seine Partnerin, jetzt wieder in ruhigem Tonfall.



„Keine Ahnung, ich nehm immer die S-Bahn“, antwortet diese.



Aus den Lautsprechern des Fahrzeugs tönt eine sanfte Frauenstimme in einem warmen Alt-Ton: „Rilke Realschule“.



„Wo simmer?“, fragt der Mann.



„Silke Realschule“, sagt die Frau.



„Die Silke hat noch unsere Badmintonschläger“, brummt der Mann.



Die Frau schaut auf die Anzeigetafel des Busses, auf der in roten Lettern „Rilke Realschule“ prangt. „Realschule... Realschule...“, sinniert sie vor sich hin. „Realschule... hab ich schon mal gehört.“



„Also ich hab keine Ahnung, wo wir sind“, sagt der Mann und fischt eine Bierflasche aus der linken Jackentasche. Er öffnet sie, setzt an und trinkt. Der Bus fährt beim Verlassen der Haltestelle „Rilke Realschule“ etwas ruckartiger an als sonst und die Flasche verrutscht von seinen Lippen. Bier spritzt über sein Gesicht und ergießt sich über seinen Oberkörper.



„Heee, willst du uns alle umbringen oder was?“, brüllt der Mann nach vorne.



„Scheiße, echt...“, flucht er leise, stellt die fast leere Bierflasche auf den Boden, öffnet seinen Rucksack, zieht eine Rolle Toilettenpapier hervor und wischt sich grobflächig die Flüssigkeit von Gesicht und Pullover. Er knüllt das nasse Papier zusammen und wirft es auf den Boden. Aus dem geöffneten Rucksack kramt er zwischen mehreren leeren Bierflaschen eine zerknittere Bild-Zeitung des heutigen Tages hervor und beginnt zu lesen.



„Yitzhak-Rabin-Straße“, flötet die sonore Alt-Stimme aus den Lautsprechern.



„Jitz – was?“, fragt die Frau.



„Yitzhak-Rabin-Straße“, sagt der Mann.



„Nie gehört“, sagt die Frau.



„Yitzhak Rabin – kennst du net?"



„Ne.“



„Der Ministerpräsident.“



„Welcher?“



„Den, wo’n se verschossen ham.“



„Wo?“



„Na in Israel! Der ehemalige israelische Ministerpräsident!“



„Und was macht ein israelischer Ministerpräsident auf unseren deutschen Straßen?“



„He! Der war sogar Friedensnobelpreisträger!“



Die Frau starrt ungläubig auf die Anzeigetafel und versucht, die zugegeben nicht einfache Buchstabenkombination „Yitzhak-Rabin-Straße“ zu entschlüsseln. Der Mann vertieft sich wieder in seine Bild-Zeitung.



„Yitzhak Rabin“, murmelt er und streicht die Seiten glatt. Er hält inne, dreht sich nochmal zu seiner Partnerin und blökt sie an:



„Yitzhak Rabin – das war voll der korrekte Typ, okay?“






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