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Das Gefängniss

Text: NovemberRain85
Ich hadere mal wieder mit mir, meinem Leben und meinem Schicksal.

Borderline wurde mir als Stempel aufgedrückt.

Mal habe ich es gehasst, mal hingenommen. Mal bin ich mit der Diagnose Hand in Hand wie mit einem guten Freund durch die Strassen geschlendert. Mal hab ich den Feind von mir gestoßen.

Ich habe eine Hochphase hinter mir. Das ist gewiss. Meine Ärztin hält mich für derzeit Austherapiert und möchte mich auf die freie Wildbahn loslassen. Allerdings unterstützt von Medikamenten. Akzeptiere ich. Sehe ich ein. Will ich auch so. Sie gleichen meine Schwankungen aus.

Derzeit arbeite ich viel. Das muss so sein. Meiner dämlichen Vergangenheit habe ich es nämlich zu verdanken dass ich sogenannte Altlasten wie ich es liebevoll betitele abzutragen habe, abzutragen habe. Fluchtartiger Auszug aus einem Gefängnis, was mein damaliges Leben mit einem 9 Jahre älteren Mann für mich war, Abführmittelmissbrauch (35 Tabletten am Tag gehen auch irgendwann ins Geld), Fressattacken bei denen ich täglich Lebensmittel für über zwanzig Euro vernichtete und letztendlich eine angehende Kaufsucht hinterlassen ihre Spuren auf dem Konto.

Nunja. Ich will mich nicht beklagen. Auf jeden Fall muss ich derzeit eben so viel arbeiten und komme so auf ca. 52 Stunden in der Woche. Das zehrt ganz schön.

Seit 4 Monaten bin ich jedoch mit der wunderbarsten Frau auf Erden zusammen und sie macht mich sehr glücklich!

Doch seit ein paar Tagen fühl ich mich gar nicht mehr so. Das hat absolut nichts mit ihr zu tun! Dessen bin ich mir sicher!! Doch überlege und überlege ich, was der Grund sein könnte und ich komme an kein Ziel.

Natürlich sind 52 Arbeitsstunden pro Woche verdammt viel aber ich brauche das Geld! In meinem eigentlichen Job sehe ich Tag für Tag wie es ist, hilfebedürftig zu sein. Wie man lebt, wenn man sich nichts leisten kann. Wenn für Obst und Gemüse das Geld fehlt und die Kleidung nur aus Löchern besteht. Da arbeite ich lieber doppelt und dreifach als mir nichts leisten zu können. Momentan führt das eben dazu, dass ich mich leer und kraftlos fühle.

Leider munterten mich in den letzten Tagen nicht einmal mehr die gemeinsamen Stunden mit meiner Liebsten mehr auf, was mich sehr traurig macht.

Ich möchte doch nicht das sie denkt an meinen Gefühlen könnte sich etwas ändern. Also zum Schlechten. Denn dem ist ganz und gar nicht so!

Nungut. Eine Unklarheit die diesbezüglich im Raum steht ist ein eventueller Zusammenzug das sie etwa 40 Km entfernt wohnt und jetzt ganz in der Nähe einen Job gefunden hat. Da wäre es (unabhängig von der finanziellen Situation!) eigentlich naheliegend, wenn man übers Zusammenziehen nachdenkt. Habe zwei Stimmen in mir, die gegeneinander Kämpfen. Schließlich bin ich ein gebranntes Kind. Auch wenn ich damals nicht aus Gründen der Liebe die Wohnung mit einem 9 Jahre älteren Mann teilte so habe ich doch Ängste in mir. Werde ich es wieder als Gefängnis empfinden?



*



sechs Jahre früher



Wir waren unterwegs zu der ungefähr fünften Wohnungsbesichtigung. Meine Mutter war nach dem Auszug meines Vaters kaum noch Zuhause und so befand ich mich die meiste Zeit bei meinem Freund. Wir hatten uns über den Verein kennen gelernt. Als Außenseiterin, die ich immer war, hatte er es geschafft zu mir durchzudringen und irgendwie hatte ich diese Aufmerksamkeit genossen. Jetzt waren wir ein Paar. Eigentlich wollten wir seine zugegeben etwas heruntergekommene Wohnung (er war nicht unbedingt das, was sich eine Mutter als Schwiegersohn wünschen würde) nur renovieren. Irgendwie war er dann auf die Idee gekommen, freie Wohnungen zu besichtigen. Ich hatte mich gefragt, wie wir das anstellen sollten. Er verschuldet, ich in der Ausbildung. Aber für ihn stellte das alles kein Problem dar. Und ich lief blind hinterher. Traute mich nicht, etwas zu sagen. Traute mich nie etwas zu sagen. Denn die Angst, vor dem Alleinsein war viel zu groß! Was hätte ich denn auch allein hier in dieser Stadt gesollt? Und nach München wäre ich nie gegangen. Und zu meinem Erzeuger? Never!

Wir fuhren also durch eine Gegend in der ich mir nie vorstellen könnte zu wohnen. Innerlich betete ich mir immer wieder vor dass egal wie toll die Wohnung doch wäre ich mir irgendetwas einfallen lassen müsste um genau dort nicht hinzuziehen. Ich war ja auch noch keine 18. Welcher Vermieter würde das auch schon wollen?



Eine Woche später sprachen wir bei den Vermietern vor und mein Freund stellte mich als seine Verlobte vor. Ich saß wie immer ganz still und traute mich nichts zu sagen.

Wir bekamen die Wohnung.

Als wir einzogen hatte ich fast keine Ersparnisse mehr. Und dass was ich noch hatte reichte gerade noch so für den Führerschein denn die Wohnung lag in der puren Einöde. Ein Kaff mit keinen 500 Einwohnern. Ein Gefängnis eben. Und die Gitterstäbe rückten von Tag von Tag näher.

Ich hatte ihn als Kiffer kennen gelernt. Nicht als einen dieser 15jährigen Dauerkiffer. Nein. Ab und zu einen Joint. Mehr nicht. Doch es wurde schlimmer.

Irgendwann kaufte er jeden Abend für 50,00 Euro Gras oder ähnlich. Es entwickelte sich aber immer weiter. Fand er nichts, gab es Alkohol. Bis zu einem Liter feinsten Kräuterschnaps. Mir wird es heute noch schlecht, wenn ich das Zeug rieche.

Irgendwann trank er jeden Abend nen Liter Schnaps, egal ob mit oder ohne Drogen. Und das war eindeutig nicht Lustig. Meist war er friedlich, schloss sich im Computerzimmer ein, schaute sich dort Pornos an und masturbierte. Aber tat ich nur einen falschen Atemzug wurde er aggressiv.

Oft endeten Diskussionen damit, dass ich in einer Ecke kauerte oder mit dem Kopf gegen die Wand knallte. Das war allerdings halb so schlimm. Denn letztendlich ging er danach wieder zu seinen Filmchen.

Schlimmer empfand ich die Abende, an denen wir gemeinsam zu Bett gingen. Wenn ich glück hatte, lies er mich einfach in Ruhe. Aber nicht immer.

Seine Hand wanderte zu mir. Ich tat sie weg, drehte mich um.

Er versuchte es erneut. Ich drehte mich wieder. Ein weiterer Versuch seinerseits.

So konnte das minutenlang gehen. Bis ich den Widerstand aufgab. Und ihn sein „Geschäft“ verrichten lies.

Immer wieder schlief er mit mir, ohne dass ich es gewollt hätte. Mein Nein überhörte er. Oder wischte es mit einem „Ach komm schon“ beiseite.

In einer anderen Situation, die mich bis heute extrem anwidert, wollte er mich unbedingt dabei filmen, wie ich ihn mit dem Mund befriedige. Wieder ein anderes Mal band er mich mit Ketten an.

Ich war überfordert. Ich meine was hätte ich tun sollen? So oft hatte ich ihm gesagt, dass ich nicht wollte und stets hatte er meine Grenzen überschritten. Irgendwann habe ich dann resigniert.

Vielleicht tauchte daher zu dieser Zeit die Selbstverletzung auf.

So sehr habe ich mir gewünscht, er würde sich jemand anderen suchen! Ich fand sogar einmal Nacktfotos einer gemeinsamen Freundin. Er stritt jedoch alles ab. Leider.



Zu dieser Zeit verletzte ich mich immer häufiger selbst. Das sorgte nicht unbedingt für Harmonie in dieser verkorksten Beziehung. Von Co-Abhängigkeit hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich etwas gehört aber mir wurde klar, dass ich alleine nicht mehr zu recht kam und beschloss mir unverbindlich ein paar Psychotherapeuten anzuschauen.

Ein Neurologe, bei dem ich inzwischen in Behandlung war, weil bei mir epileptische Anfälle ohne genauen Hintergrund auftraten tippte aufgrund meiner Vergangenheit auf Borderline.

So machte ich mit dieser Verdachtsdiagnose in der Tasche auf die Suche.

Nicht wirklich lustig sag ich euch. Einer der ersten Therapeutin, bei dem ich einen Termin bekam erwies sich als extrem inkompetent in meinen Augen. Denn obwohl ich im alles über meine Vergangenheit und meine Selbstverletzung erzählte war seine Schlussfolgerung einzig: „Also Frau Scholz, irgendwie sehe ich Problem nicht so ganz.“ Das reichte mir erst einmal.



Aber mir ging es immer schlechter. Schnitt mich an Körperstellen, an denen ich sicher war er würde es nicht sehen. Wusste mir werde ein, noch aus. Dann war mir klar: ich musste heimlich ausziehen!! Ich hatte zwar alles Geld was ich hatte in die Beziehung gesteckt, aber er hatte mir ja vorgemacht, wie einfach man an Kredite kam. Und aufgrund seiner Schichtarbeit musste ich nicht einmal großartig auf heimlich machen.

Samstag und Mittwoch Wohnungsanzeigen durchforstet. Telefonate geführt. Irgendwann hatte es geklappt. Besichtigungstermin stand fest. Hin. Wohnung angeschaut.

Eine Woche später hatte ich den Mietvertrag zur Unterschrift auf dem Tisch.

Doch ich hatte Angst und schmiss ihn weg. Er erfuhr nie etwas davon.

Es folgte dafür ein weiterer epileptischer Anfall. Wieder tausende Untersuchungen. Wieder keine körperlichen Gründe. Wieder Borderlineverdacht. Dafür wurde mir klar, dass ich weg musste und Hilfe brauchte. Also machte ich erneut auf die Suche nach einem Therapieplatz. Es war die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Ich war berufstätig. Ich war auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Und verdammt, ich wohnte hinterm Mond! Ich lies mich auf ca. eine Million Wartelisten setzten. Irgendwann durfte ich dann doch mal zu einem Probegespräch.

Dr. Peters war ein sehr sympathischer Mann mittleren Alters. Die Praxis befand sich in der Altstadt. Der die Dielenfußboden knarrte mir ein Willkommen.

Dann wieder der Verdacht Borderline. Und ich wurde zum ersten Mal mit der damit verbundenen Ablehnung konfrontiert.

„Es tut mir leid. Aber an die Borderlinethematik traue ich mich als Therapeut einfach nicht hin. Und schon gar nicht, wenn sie im Zusammenhang mit einer Missbrauchsvergangenheit steht.“

Ich brach voller Enttäuschung in Tränen aus.

„Aber, aber. Das ist doch kein Weltuntergang!“

„Sie haben ja keine Ahnung, bei wie vielen Therapeuten ich es schon versucht habe. Entweder wird man nur auf Wartelisten gesetzt oder gar nicht zurück gerufen. Sie sind der erste, der meiner Meinung nach überhaupt Handlungsbedarf bei mir sieht und jetzt wollen sie mich damit alleine lassen.“ Er reichte mir ein Taschentuch.

„Ich werde Sie damit nicht allein lassen. Ich habe nur gesagt, dass ich mich nicht in der Lage sehe sie zu behandeln. Und ich bin ein Mann. Sie wurden missbraucht! Sehen sie das etwa nicht als Problem?“ Mir wurde bewusst, dass ich bisher nur versucht hatte, bei Männern einen Therapieplatz zu ergattern.

„Vielleicht sollten Sie ihr Glück bei einer Frau versuchen. Mit einem Probeversuch ist doch nichts verloren. Und sollten sie sich in einer Akutsituation befinden, können sie selbstverständlich zu mir kommen. Bis sie einen festen Platz haben, dürfen sie immer zu mir kommen.“ Er lächelte mich aufmunternd an.

Verunsichert verlies ich dich Praxis.

Ein paar Tage später, seinen Rat im Ohr begann ich mit den gelben Seiten in der Hand sämtliche Therapeutinnen anzurufen.

Bei der ersten, bei der ich einen Termin bekam, bin ich heute noch in Therapie.

Diese wundervolle Begegnung, für die ich noch heute unglaublich dankbar bin führte dazu, dass während der ersten drei Gespräche ein stationärer Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik geplant wurde. So konnte ich meinem Gefängnis für 12 Wochen entfliehen.



Ich kam wieder als ein anderer Mensch.

Zwar befand ich mich beziehungstechnisch noch immer in der gleichen Situation aber ich hatte Kraft geschöpft. Ich wusste jetzt, was ich wollte. Hatte Ziele und Grenzen gesetzt. Ihm gesagt, was ich wollte und nicht wollte. Er versprach mir das blaue vom Himmel und hielt nichts.

Ein halbes Jahr später zog ich endlich aus meinem Gefängnis aus.

Seither sind drei Jahre vergangen.










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