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"In Erfurt gehören die Häuser Leuten aus den alten Bundesländern"

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Clueso wurde 1980 in Erfurt geboren. Bevor das Interview beginnt, will er zuallererst einmal wissen, ob unsere Autorin im Westen oder Osten Deutschlands aufgewachsen sei. Je nachdem müsse er die Geschichte anders erzählen. Die Antwort war: im Westen.

jetzt: Du warst bei der Wiedervereinigung zehn Jahre alt. Wie hast du das als Kind wahrgenommen, dass du in einem Land lebst mit einer Mauer drum herum?

Clueso: Ich kann mich noch ganz gut an die erste Begegnung mit der Mauer erinnern: Meine Eltern waren mit meinem Bruder und mir in Berlin unterwegs. Wir sind dort so rumspaziert und ich hab' irgendwann gefragt: Was ist denn dahinten? Warum geht's da nicht weiter? Und dann geht's eben los als Kind: Warum? Wieso? Warum? Das hab' ich nicht verstanden, warum ich mitten in der Stadt nicht weiter darf. Meine Eltern meinten dann sehr konsequent: Das ist gefährlich. Lebensgefährlich. Ich hatte damals keine Ahnung, was sie damit meinten, also, dass man erschossen wird, wenn man sich nähert.

Hattest du denn das Gefühl, eingesperrt zu sein?

Nee, das hat man als Kind nicht. Wir durften draußen spielen bis 18 Uhr und überall hin in Erfurt – das reichte vollkommen aus, das war unsere Freiheit. Ich habe später erst gecheckt, was das bedeutet, das man nicht raus darf.

Wie kam das?

Wir haben immer heimlich Fernsehen geschaut, mein Bruder und ich. Wie alle anderen eben auch. Wenn man zum Beispiel in Jena in die Stadt reinfuhr, hat man in den Balkons die ganzen Neonröhren in den Wohnungen leuchten gesehen. Das haben die Leute ja nicht gemacht, weil das Licht mit diesen Röhren so schön ist. Das haben sie gemacht, damit niemand von außen sehen kann, wie das Fernsehbild wechselt. Und natürlich hatten mein Bruder und ich immer die Vorstellung, dass hinter der Mauer alles aussieht wie in einer Nimm-2-Werbung.

Dein Opa war wie du auch Musiker. Was hat er dir erzählt über seine Arbeit als Künstler in der DDR? Wo gab es für ihn Grenzen?

Mein Opa hat eher so muntere Nachkriegs-Arbeiter-Songs gesungen. Da waren bestimmte Themen sicherlich schwierig und er musste sich schon sehr genau überlegen, wo er ist und was er anspielt. Er wurde grundsätzlich von der Stasi beobachtet, nur weil er Musiker war. Aber bei meinem Opa gab es keine Setlist, die haben sich in Kneipen getroffen und da liefen die Songs einfach raus. Er musste nur aufpassen, dass das nicht falsch ausgelegt wird – und gute Connections haben natürlich.

Wie beeinflusst dich die Musik aus dieser Zeit?

Ich habe viele Platten von meinem Vater gehört. Der hatte natürlich viel Udo, aber auch viel Puhdys, Karat, Uhren ohne Zeiger. Und viel von dieser Lyrik hab' ich übernommen, einfach weil ich es mochte, dass sie jeder selbst interpretieren kann. Wenn die Musiker damals über Freiheit gesungen haben, dann hieß es "hinter'm Hügel" oder so. Und was ich auch mag und verwende, sind lange Instrumentalparts. Das ist auch typisch Ost-Mucke. Man hat einfach viel Musik gemacht, um wenig Text zu bringen.

Kinder kriegen das meist ja schon sehr genau mit bei Eltern oder Erwachsenen, wenn etwas verboten ist oder verheimlicht wird. Wie war das bei dir?

Ich kann mich daran erinnern, dass im Alltag in den Bussen und auf den Straßen generell nicht so laut geredet wurde. Es gab draußen nicht so viele Tische vor den Cafés, wo man gut hätte belauscht werden können. Aber das fällt einem erst im Nachhinein auf. Kurz vor dem Mauerfall, als viele über Ungarn geflohen sind, haben meine Eltern auch darüber nachgedacht. Wir Kinder wurden von diesen ganzen Fluchtthemen ferngehalten – viel zu viel Potential, es zu verraten. Kumpels von meinem Vater haben damals mal gesagt: Jetzt müssen wir rüber, bevor das Leck zu ist. Meine Eltern haben es dann aber nicht gemacht. Wegen der Arbeit, der Heimatstadt und vor allem wegen uns Kindern. Das ist schon eine krasse Entscheidung, nochmal von Null anzufangen.

 

Wie hast du den Mauerfall und diese Umbruchszeit erlebt?

Da gibt es in meiner Erinnerung nur positive Gefühle! Und das ist schon total einzigartig, wenn man das jetzt mal mit anderen historischen Ereignissen vergleicht, die wir so miterlebt haben, dem 11. September zum Beispiel. Aber was man beim Mauerfall nie bedenkt: Für Leute, die in der DDR gelebt haben, war das schon ein harter Schnitt. Vorher warst du total eng, hast deine Arbeitskollegen und deren Familien sehr gut gekannt. Und dann wurdest du gekündigt oder musstest Leute rausschmeißen. Für die Generation meiner Eltern war das eine schlimme Zeit. Links und rechts hat es nur geknallt. Familien sind auseinandergebrochen. Leute sind daran zerbrochen, dass ihr Ego total geschwächt wurde, weil sie nichts Neues gefunden haben. Was mache ich jetzt? Was bin ich wert? Und die Auswirkungen siehst du noch heute: Wenn man sich in Erfurt umschaut, gehören die Häuser Leuten aus den alten Bundesländern. Viele Grundstücke waren ungeklärt, in der DDR hatte niemand Geld – da war viel zu holen nach der Wende. In dieser ganzen Umbruchsituation gab es keine Rampe, kein Fading. Das ging ja wahnsinnig schnell. Die Leute wurden verarscht, weil sie relativ unwissend waren. Und das hat eine ganz miese Grundstimmung und ein großes Misstrauen erzeugt.

 

Merkst du diese Stimmung, diesen Unmut immer noch beziehungsweise wieder?

Ja, das geht ja sehr schnell, ein Feindbild zu erzeugen, einen Sündenbock für seine eigenen ungelebten Träume zu finden. Das ist schon etwas, das ich heute wieder merke in den neuen Bundesländern. Es gibt ja mittlerweile einen nicht geringen Anteil, der fremdenfeindlich ist beziehungsweise Angst vor dem Fremden hat. Es gibt viele Leute, die Aggressionen haben und nicht wissen wohin damit und die sich jetzt einen Schuldigen suchen. Wenn die Leute einen Grundfrust haben und sich versammeln, ohne genau zu wissen, gegen was sie eigentlich sind – dann ist es relativ leicht, es an einem anderen auszulassen. Ich kenne das ja auch im Alltag, wenn man ganz schnell jemanden anmacht, weil man einen schlechten Tag hatte.

 

Gibt’s heute noch Momente, in denen du an die Mauer denkst?

Eher im indirekten Sinne, wenn ich fliege. Weil du im Flugzeug eben nicht das Gefühl hast, es gehe irgendwo nicht weiter. Von oben siehst du keine Grenzen. Und da siehst du einfach immer, dass so etwas menschengemacht ist.

 

Das Interview mit Clueso entstand während der Arbeiten an der vierteiligen Dokumentationsreihe "Was geht mich das an?" für den WDR.  Folge eins "Die Mauer" läuft am  5. Oktober 2016 um 22.55 Uhr.

 

Wie eure Spotify-Liste zu DDR-Zeiten hätte aussehen können:

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