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Wie Veronika mit ihrer Krankenkasse um einen Elektro-Rollstuhl kämpfte

Die Münchner Studentin bewältigt ihren Alltag mit Hilfe eines Elektro-Rollstuhls
Foto: Michel Arriens

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Veronika liebt das Studentenleben. Die 24-Jährige studiert Psychologie, Theologie, Skandinavistik und Komparatistik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, trifft gerne ihre Freunde und wohnt in einem Zimmer im Studentinnenwohnheim Theresianum. Eine ganz normale Studentin also. Fast.

Denn Veronika lebt seit 22 Jahren mit spinaler Muskelatrophie – eine Krankheit, bei der durch einen Defekt im Rückenmark Impulse vom Gehirn nicht an die Muskeln weitergeleitet werden. Der Effekt: Muskelschwund. Veronika ist auf einen Elektro-Rollstuhl angewiesen, erhält eine 24-Stunden-Assistenz und hat grob geschätzt nur ein Viertel der Körperkraft einer gesunden Frau in ihrem Alter. Schon im zweiten Lebensjahr erhielt sie ihren ersten elektrischen Rollstuhl. Das alles hält die Münchnerin aber nicht davon ab, das Leben zu genießen.

In den vergangenen Monat aber wurde es schwieriger. Ihre Krankenkasse verweigerte ihr nämlich seit Herbst einen neuen Rollstuhl, nachdem der alte kaputtgegangen war. Monatelang litt Veronika unter dem Verzicht: Der Ersatzrollstuhl konnte ihre Muskulatur nicht richtig stützen. Aufgrund der körperlichen Schmerzen bekam sie von ihrem Arzt Cortisonspritzen und andere Schmerzmittel verschrieben, bis vor einigen Tagen die Schmerzen überhand gewannen und sie schlicht zu Hause blieb.

Innerhalb von vier Tagen über 100.000 Unterschriften

Veronika war klar, dass der Prozess zu langsam voranging und entschied, selbst tätig zu werden. Am 4. Januar startete sie auf change.org eine Onlinepetition mit dem Aufruf: „AOK Bayern: Bewilligen Sie meinen lebensnotwendigen Elektro-Rollstuhl.“ Innerhalb von vier Tagen sammelten sich über 100.000 Unterschriften an - vergleichbare Petitionen brauchen dafür Wochen oder Monate . Veronika bestätigt am Telefon: „Das war extrem rührend. Ich habe die ganze Zeit fassungslos vorm PC gesessen. Und ich habe auch versucht so viele liebe Kommentare wie möglich zu lesen. Aber es kam eine Flut, mit der ich nicht gerechnet habe.“

Zwischen vielen ermutigenden Kommentaren und wütenden Reaktionen über die Entscheidung der AOK Bayern erreichten Veronika auch viele Nachrichten mit persönlichen Erfahrungen, die ihrer ähnelten: „Das war nicht nur eine Handvoll Leute, sondern Hunderte oder gar Tausende, die gesagt haben, dass sie auch keinen Rollstuhl bewilligt kriegen. Wenn mir jemand schreibt, dass er sich die Hand blutig gefahren hat an einem Rollstuhl, weil er keinen passenden bekommen hat, dann finde ich das entsetzlich. Es scheint sich niemand zu kümmern.“

„Wenn mein Arzt schreibt: Frau Meier braucht diesen Rollstuhl in dieser Größe – dann heißt das auch, dass ich den brauche.“

Dieses Gefühl hatte Veronika auch bei der Reaktion der AOK, die ihren Antrag auf einen neuen Rollstuhl ablehnte. Die Begründung: zu teuer. Tatsächlich kostet Veronikas Rollstuhl-Modell 24.100 Euro. Das Problem mit der Alternative: zu groß für Veronikas Zimmer im Wohnheim. „Als mir dann noch vorgeschlagen wurde, ich solle mich einfach in den Handrollstuhl setzen, konnte ich nur antworten: Ich kann mit einem Handrollstuhl nicht fahren. Da könnt ihr mich genauso gut auf einen Bürostuhl binden – das ist ähnlich effektiv.“

Die Krankenkasse fordert Gutachten nach Gutachten ein – ein Prozedere, das Veronika nicht nachvollziehen kann. „Ich habe ein Gutachten erstellen lassen und den Rest verweigert. Die Wohnung wurde gesehen und es wurde festgestellt: Sie ist zu klein. Was soll man da noch tausend Gutachten erstellen? Die Wohnung wird nicht wachsen und der Rollstuhl nicht schrumpfen. Und wenn mein Arzt schreibt: Frau Meier braucht diesen Rollstuhl in dieser Größe – dann heißt das auch, dass ich den brauche. Man hat in seinem Leben besseres zu tun, als tausend Anträge zu schreiben.“

In einer Prüfung sollte festgestellt werden, ob eine Reparatur sinnvoll sei - das dauerte.

Zum Beispiel in die Uni gehen. Lernen fällt ihr nicht schwer, ganz im Gegenteil. Und das, obwohl selbst Mitschreiben teilweise zur Herausforderung werden kann. Auch deswegen forderte Veronika in ihrer Online-Petition: „Ich möchte mein Leben genau so führen dürfen, wie Sie es können. Ich möchte arbeiten, studieren und Steuern zahlen. Ich möchte ein Teil der Gesellschaft sein dürfen. Und ich möchte keine Schmerzen mehr haben! Ist das zu viel verlangt?“

Mehr als 100.000 Menschen fanden: nein. Sie unterschrieben und teilten die Petition für eine größere Reichweite. Und das mit Erfolg. Am Dienstag teilte die Krankenkasse Veronika per E-Mail mit, dass die Bewilligung für den Rollstuhl nun vorliegen würde. Veronika ist erstaunt, was mit ein wenig Druck von außen alles möglich ist. „Ich weiß nicht, was in der Zeit nach der Antragstellung, also zwischen Oktober und Dezember, passiert ist. Für mich wirkt es so, als hätte die Krankenkasse gar nichts gemacht. Aber als die Infos über die Petition dann zur AOK durchgedrungen sind, haben sie plötzlich gesagt, dass das mit den Gutachten nur ein Serviceangebot war, für eine bessere Beratung für mich und dass jetzt ganz schnell entschieden würde.“

Die AOK Bayern bestätigte auf Nachfrage von jetzt nur, dass die Krankenkasse seit Oktober im intensiven Kontakt mit der Versicherten stünde, „um eine passgenaue Rollstuhlversorgung weiterhin zu gewährleisten“. Weiterhin betont der Pressereferent Steffen Habit in einer Mail, dass aufgrund einer eingehenden Prüfung festgestellt werden sollte, inwiefern eine Reparatur des alten Rollstuhls wirtschaftlich sinnvoll sei. Das habe gedauert, die Krankenkasse habe erst am 28. Dezember 2018 einen Kostenvoranschlag des Lieferanten bekommen. „Die Prüfung ergab, dass eine Reparatur unwirtschaftlich ist.“ Marie kommen diese Sätze bekannt vor, „das ist die Standardantwort von ihnen zu dem Fall“, sagt sie. Für weitere Nachfragen war die AOK telefonisch nicht zu erreichen.

Veronikas Fall ist für sie gut ausgegangen. Für die Zukunft und für andere würde sie sich wünschen, dass Verfahren beschleunigt und die medizinischen Gutachten auch wirklich gewissenhaft gelesen werden würden. Da könne man herauslesen, dass bestimmte Zusatzleistungen – wie in Veronikas Fall ein Elektro-Rollstuhl in der passenden Größe – lebensnotwendig seien. Mit ihrem neuen Gefährt kann Veronika jetzt wieder in den Alltag starten, das hat sie ihren guten Nerven und über 100.000 Unterstützern zu verdanken.

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